Ich beginne mit einigen Beispielsätzen:
(1) Peter hofft, dass seine kranke Mutter bald wieder gesund wird.
(2) Joseph hofft, dass der Lehrer nicht merkt, dass er abgeschrieben hat.
(3) Maria hofft, dass sie die Eignungsprüfung für die Lehrstelle schafft.
Aus diesen Beispielsätzen lassen sich sechs Vermutungen über die Hoffnung ableiten:
Vermutung 1: Zur Hoffnung gehört erstens eine Person, die hofft; und zweitens gehört zur Hoffnung etwas, was diese Person erhofft.
Vermutung 2: Was wir erhoffen, lässt sich in einem dass-Satz ausdrücken. Wir erhoffen keine Dinge oder Gegenstände. Wir hoffen vielmehr darauf, dass etwas der Fall sein soll.
Dort, wo sich kein dass-Satz findet, lässt sich der Satz aber leicht so umformen, dass ein dass-Satz vorkommt.
(4a) Wir hoffen auf schönes Wetter für unseren Ausflug.
Der Satz (4a) lässt sich in den Satz (4b) umformen:
(4b) Wir hoffen, dass das Wetter schön ist, wenn wir unseren Ausflug machen.
(5a) Die Menschen hoffen auf Frieden.
Der Satz (5a) lässt sich in den Satz (5b) umformen:
(5b) Die Menschen hoffen, dass bald Frieden einkehren wird.
Vermutung 3: Was wir erhoffen, liegt in der Zukunft. Es sind somit künftige Tatsachen bzw. Ereignisse, die wir erhoffen. Die Hoffnung bezieht sich nicht auf etwas, was in der Gegenwart oder in der Vergangenheit liegt.
Vermutung 4: Was wir erhoffen, ist nicht gewiss, aber auch nicht unmöglich. Es ist Unsinn zu sagen:
(6) Ich hoffe, dass morgen die Sonne aufgeht.
Es ist gewiss, dass die Sonne aufgehen wird.
(7) Ich hoffe, dass meine tote Oma wieder bei uns ist.
Es ist unmöglich, dass die Oma wieder lebendig wird.
Vermutung 5: Was wir erhoffen, liegt nicht völlig in unserer Hand. Manchmal können wir einen Beitrag leisten; manchmal sind wir völlig ohnmächtig. Maria kann für die Prüfung zwar üben, aber der Erfolg liegt nicht ganz in ihrer Hand; Peter kann wohl gar nichts tun, damit seine Mutter wieder gesund wird.
Vermutung 6: Was wir erhoffen, muss etwas sein, was wir erstreben, wünschen, gerne hätten, kurz, für gut halten. Wenn jemand sagt, er erhoffe etwas, was wir für schlecht halten, dann unterstellen wir, dass es für ihn etwas Gutes ist. So kann Reiner sagen:
(8) Ich hoffe, dass meine Grippe nicht so schnell weggeht.
Eine Grippe ist an sich etwas Schlimmes. Reiner aber hat nicht für die Mathematikarbeit geübt und wünscht durch die Krankheit einen Aufschub. Für Reiner hat die Grippe in dieser Situation etwas Gutes.
Oder Egon kann sagen:
(9) Hoffentlich überlebt Tante Kunikunde ihre Herzoperation nicht.
Der Tod eines Menschen ist etwas Schlimmes. Egon aber wünscht sich Tante Kunikundes Tod, weil er Tante Kunigundes Vermögen erben wird.
Ich fasse zusammen: Was wir erhoffen ist, so Vermutung 6, etwas Positives, ein Gut, welches, so Vermutung 3, in der Zukunft liegt, nicht, so Vermutung 4 unmöglich, aber auch nicht notwendig ist und das wir, so Vermutung 5, nicht ganz alleine aus eigener Kraft erreichen können.
Aus dieser Zusammenfassung ergeben sich einige Eigenschaften, die jemand haben muss, um hoffen zu können:
- Wer hofft, dem darf nicht alles gleichgültig sein. Er muss Dinge erstreben, herbeisehnen.
- Wer hofft, muss über die Zukunft nachdenken können.
- Wer hofft, muss den Unterschied zwischen Notwendigem und Unmöglichem kennen.
- Wer hofft, ist nicht allmächtig, denn ein allmächtiges Wesen kann alles aus eigener Kraft erreichen.
Ob die Hoffnung nun an sich etwas Gutes, etwas Schlechtes oder etwas ist, was weder gut noch schlecht ist, ist schwer zu entscheiden.
An sich und in jeder Hinsicht gut ist die Hoffnung wohl eher nicht. Denn: Wer etwas erhofft, dem fehlt etwas. Und das ist nicht gut.
Manchmal, so sieht es aus, ist die Hoffnung jedoch eher gut, manchmal jedoch eher fragwürdig oder schlecht.
Fragwürdig oder schlecht ist eine Hoffnung, die uns (a) dazu verführt, Schlechtes zu tun oder die sich (b) direkt auf etwas Schlechtes richtet.
Beispiele für Hoffnungen, die uns (a) dazu verführen, Schlechtes zu tun, könnten sein:
Xaver ist Bergführer. Er ist mit einer Gruppe von Kletterern auf dem Abstieg vom Matterhorn. Der Weg führt über den Hörnligrat. Per Handy erreicht Xaver eine Unwetterwarnung. Er will jedoch schnell ins Tal und hofft, vor Einbruch des Unwetters das Ziel zu erreichen. Diese Hoffnung verführt ihn dazu, nicht in der Hörnlihütte Schutz zu suchen, sondern weiterzuwandern. Seine Hoffnung trügt und die ganze Gruppe kommt im Unwetter um.
Oder:
Torben hofft, im Glücksspiel zu gewinnen, und verspielt sein ganzes Vermögen.
Ein Beispiel für Hoffnungen, die sich (b) direkt auf etwas an sich Schlechtes richten, könnte sein:
Carmen ist krankhaft ehrgeizig und geltungssüchtig. Sie will immer im Mittelpunkt stehen. Doch dieses Mal hat Frau Schiller, die die Theater-AG leitet, ihr nicht die Hauptrolle gegeben. Die Hauptrolle spielt die bescheidene Leonie. Carmen ist beleidigt. Eines Morgens macht es die Runde: Leonie ist mit dem Fahrrad gestürzt. Nun hofft Carmen aus ganzem Herzen, dass Leonie sich schwer verletzt hat, damit Leonie die Hauptrolle nicht spielen kann.
Gut hingegen ist die Hoffnung, die sich auf etwas wirklich Gutes bezieht und auch nicht zu Bösem verleitet. Die Hoffnung hilft uns, nicht die Flinte ins Korn zu werfen, uns weiter um das, was gut ist, zu bemühen. Hier ist ein Beispiel für eine Hoffnung, die gut ist:
Peter lispelt. Jede Woche muss er zur Logopädin. Die Logopädin sagt: „Du musst jeden Tag 10 Minuten vor dem Spiegel deine Sprachübungen machen!“ Seine Sprache verbessert sich zwar, aber nur ganz langsam. Manchmal ist Peter völlig verzweifelt. Aber die Hoffnung, dass er irgendwann ganz normal sprechen kann und ihn niemand mehr auslacht, gibt ihm die Kraft, weiter zu üben.
Welche Gegensätze hat die Hoffnung? Um das herauszufinden, erinnere ich an zwei wichtige Eigenschaften dessen, was wir erhoffen können, sind.
Die erste wichtige Eigenschaft ist: Was wir erhoffen, muss etwas Gutes sein. Es ist demnach eine Eigenschaft der Hoffnung, sich auf etwas Gutes zu beziehen.
Die zweite wichtige Eigenschaft ist: Was wir erhoffen, muss möglich sein, darf also nicht notwendig oder unmöglich sein. Es ist demnach eine Eigenschaft der Hoffnung, sich auf etwas Mögliches zu beziehen.
Indem wir diese beiden Eigenschaften der Hoffnung verneinen, ergeben sich drei Gegensätze zur Hoffnung.
Gegensatz 1 zur Hoffnung ist die Angst: Hoffnung bezieht sich auf ein Gut. Der Gegensatz zu einem Gut ist etwas Schlimmes, ein Übel. Wer nun von einem künftigen Übel glaubt, es sei möglich, der hat Angst. Angst ist also der erste Gegensatz zur Hoffnung. Wir haben Angst vor einem zukünftigen Übel, das wir für möglich halten; wir erhoffen etwas zukünftig Gutes, das wir für möglich halten. Angst und Hoffnung gleichen sich, weil sie sich auf etwas beziehen, was möglich ist und in der Zukunft liegt. Angst und Hoffnung unterscheiden sich, indem die Angst sich auf ein Übel bezieht, die Hoffnung sich auf ein Gut richtet.
Gegensatz 2 der Hoffnung ist die sichere Vorfreude: Hoffnung bezieht sich auf etwas, was nur möglich, aber nicht gewiss ist. Wer glaubt, etwas Gutes treffe gewiss, ja notwendig ein, der ist seiner Sache sicher und völlig ruhig; er empfindet selbstsichere Vorfreude. Selbstsichere Vorfreude oder Zuversicht wäre ein zweiter Gegensatz zur Hoffnung. Hoffnung und selbstsichere Vorfreude beziehen sich beide auf etwas Gutes; aber die sichere Vorfreude bezieht sich auf etwas, was gewiss eintreten wird; die Hoffnung bezieht sich auf etwas, was in der Schwebe bleibt.
Gegensatz 3 der Hoffnung ist die Verzweiflung: Hoffnung bezieht sich auf etwas, was vielleicht gerade noch möglich und nicht schon unmöglich ist. Wer glaubt, etwas Gutes sei unmöglich zu erreichen, der ist verzweifelt. Verzweiflung ist also ein dritter Gegensatz zur Hoffnung. Hoffnung und Verzweiflung beziehen sich beide auf etwas Gutes; die Hoffnung hält es für möglich, dieses Gut zu erreichen; die Verzweiflung hält es für unmöglich, dieses Gut zu erreichen.
Hoffnung und Verzweiflung weisen aber noch zwei weitere Unterschiede auf:
Der erste weitere Unterschied zwischen Hoffnung und Verzweiflung ist: Wir hoffen oft etwas, was nicht so bedeutsam oder wichtig ist. So können wir sagen:
(10) Hoffentlich regnet es morgen nicht.
(11) Ich hoffe, dass der Zug pünktlich ist.
Verzweifelt hingegen sind wir nur, sobald es um etwas wirklich Wichtiges geht. Wir sind verzweifelt, weil ein Lebenstraum zerbricht; wir sind verzweifelt, weil uns klar wird, dass wir von einer Krankheit nicht mehr genesen werden.
Der zweite weitere Unterschied zwischen Hoffnung und Verzweiflung ist: Die Hoffnung ist meistens einfach da; Verzweiflung hingegen steht am Ende; wir sind erst dann verzweifelt, wenn die Hoffnung sich zerschlagen hat.
Oft beruhen Hoffnung und Verzweiflung auf einem Irrtum.
Wir halten etwas für möglich und erhoffen es. Aber das, was wir erhoffen ist unmöglich. Hier sind zwei Beispiele für eine Hoffnung, die auf einem Irrtum gründet:
Beispiel 1: Marthas Mann war Soldat und gilt als verschollen. Sie indessen hofft immer noch auf seine Rückkehr. Tatsächlich ist er tot.
Beispiel 2: Julia hat Augenkrebs. Ihr linker Augapfel muss entfernt werden. Nun soll ein Glasauge eingesetzt werden. Julia hofft, damit sehen zu können.
Wir halten etwas für unmöglich und sind verzweifelt. Aber das, was wir für unmöglich halten, ist möglich. Hier sind drei Beispiele für eine Verzweiflung, die auf einem Irrtum gründet:
Beispiel I: Seit Monaten treibt das Segelschiff auf dem Meer; es geht kein Wind; der Proviant ist aufgebraucht. Die Matrosen glauben, weitab jeder Küste zu sein, Land nicht mehr erreichen zu können. Tatsächlich liegt das Festland aber nur wenige Seemeilen entfernt.
Beispiel II: Marthas Mann war Soldat und gilt als verschollen. Sie glaubt nicht mehr an seine Heimkehr, hält ihn für tot und ist verzweifelt. Gleichwohl lebt er und wird bald heimkehren.
Beispiel III: Jan und Heike sind auf einer Treckingtour durch Indien. Jan wird von einer Schlange gebissen, die Heike für eine Kobra hält. Kein Arzt ist in der Nähe. Heike ist völlig verzweifelt, weil sie glaubt, Jan werde sicher sterben. Die Schlange war jedoch eine Dhaman, die ungiftig ist. Jan wird überleben.