Ich beginne mit einem Beispiel:
Else H. sitzt vor dem Fernseher. Sie schaut eine Nachrichtensendung. Die Nachrichtensprecherin berichtet von einer Hungersnot in Biafra. Es werden Bilder von kleinen, halbverhungerten Kindern gezeigt. Die Kinder haben ganz dünne Ärmchen, große Augen und aufgequollene Bäuche. Else H. wird von tiefem Mitleid ergriffen.
Dieses Beispiel zeigt, dass eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein müssen, damit wir Mitleid empfinden.
Bedingung 1: Mitleid ist ein Zuschauergefühl oder Fremdbetroffenheitsgefühl. Mitleid empfinden wir nicht, weil uns selbst unmittelbar etwas zustößt. Else H. selbst leidet keinen Hunger. Mitleid empfinden wir vielmehr, weil anderen etwas zustößt. Die Kinder in Biafra leiden unter Hunger. Die meisten Gefühle entstehen, weil mir selbst etwas Gutes oder Übles zustößt oder zustoßen könnte. Die meisten Gefühle sind Selbstbetroffenheitsgefühle: Wir sind traurig, weil wir etwas verloren haben, was wir lieben. Wir sind wütend, weil uns jemand beleidigt. Wir freuen uns, weil wir Glück haben. Es gibt nur wenige Zuschauergefühle oder Fremdbetroffenheitsgefühle wie das Mitleid. So zählen zu den Zuschauergefühlen bzw. Fremdbetroffenheitsgefühle der Neid, die Mitfreude oder auch die Schadenfreude.
Bedingung 2: Wir empfinden Mitleid, weil ein anderer Mensch oder ein Tier leidet, weil einem anderen Mensch oder einem Tier ein Übel zustößt. Mitleid bezieht sich somit nicht auf etwas Schönes, Gutes. Mitleid bezieht sich vielmehr auf etwas Schlimmes, Schmerzliches, Übles, wie etwa den Hunger in unserem Beispiel. Dadurch unterscheidet sich Mitleid von Zuschauergefühlen, die sich auf fremdes Glück beziehen. Auf fremdes Glück beziehen sich etwa die Mitfreude oder der Neid.
Bedingung 3: Mitleid ist mit Schmerz verbunden. Uns schmerzt es, andere leiden zu sehen. Damit unterscheidet sich Mitleid von der völligen Gleichgültigkeit gegen fremdes Leid; damit unterscheidet sich Mitleid von der Schadenfreude. Ein schadenfroher Mensch freut sich, sobald es anderen schlecht geht.
Bedingung 4: Nicht jedes Übel ruft Mitleid hervor. Nicht immer haben wir Mitleid, sobald andere Schmerzen empfinden. Es gibt Übel oder Schmerzen, die kein Mitleid erzeugen:
Bedingung 4.1: Wir haben kein Mitleid, sobald das Übel verdient oder selbst verschuldet ist: Im Gefängnis zu sitzen ist sicher schlimm. Mit einer Raubmörderin, die im Gefängnis sitzt, haben wir dennoch kein Mitleid, weil sie die Strafe verdient hat. Arm zu sein, ist sicher ein Übel. Wer aber sein ganzes Geld mutwillig verspielt hat, mit dem haben wir kein Mitleid. Zuckerkrank zu sein ist schrecklich. Wer aber zuckerkrank ist, nachdem er sich trotz vieler Warnungen jahrelang mit Sahnetorte und Schokolade vollgestopft hat, mit dem haben wir kein Mitleid. Die hungernden Kinder in Biafra hingegen verdienen ihr Elend ganz bestimmt nicht und sind auch nicht schuld an der Hungersnot.
Bedingung 4.2: Geizig zu sein, neidisch zu sein, hochmütig zu sein ist etwas Übles. Trotzdem haben wir kein Mitleid, weil jemand geizig, neidisch, hochmütig ist. Vielmehr verachten wir solche Menschen und verurteilen sie. Vielleicht haben wir hier kein Mitleid, weil wir denken: Wer neidisch ist oder geizig, ist selbst schuld daran.
Bedingung 4.3: Das Übel oder der Schmerz muss von einem gewissen Gewicht sein. Wir haben wohl kein Mitleid mit jemandem, der einen leichten Schnupfen hat oder sich einen harmlosen Sonnenbrand geholt hat. Dabei ist aber zu beachten, dass ein Übel für die eine Person groß sein kann und für die andere Person klein sein kann: Der vierjährige Simon stößt sich den Kopf. Dabei entsteht eine Platzwunde, die blutet. Simon muss ins Krankenhaus. Er bekommt eine Spritze und die Wunde wird genäht. Schwester Inge hat Mitleid mit dem kleinen Simon. Wenn aber Simons Vater, ein gesunder erwachsener Mann, sich eine Platzwunde holt und genäht werden muss, dann wird Schwester Inge kaum Mitleid haben. Der Hunger der Kinder in Biafra ist auf jeden Fall ein schwerwiegendes Übel.
Bedingung 4.4: Umgekehrt haben wir kein Mitleid, sobald das Übel allzu groß, allzu schrecklich ist. Wer bei einem Verkehrsunfall Tote und Schwerverletzte sieht, hat kein Mitleid. Vielmehr ist er oder sie entsetzt, fassungslos, erstarrt.
Bedingung 4.5: Das Übel oder der Schmerz müssen von anderen wahrgenommen werden können. Verborgene, geheime, unsichtbare Übel oder Schmerzen können kein Mitleid auslösen. Else H. nimmt das Hungerelend wahr, weil darüber im Fernsehen berichtet wird.
In einem Wort: Mitleid bezieht sich mithin auf Übel oder Schmerzen, die unverschuldet und unverdient sind, die schwerwiegend sind, die wahrnehmbar sind. Solche Übel könnten sein: Armut, Krankheit, Einsamkeit, Obdachlosigkeit, körperliche Verunstaltungen.
Bedingung 5: Wir können nur mit einem Wesen Mitleid empfinden, das selbst Schmerz empfinden kann und das für Übel empfänglich ist. Mit einem Stein haben wir eher kein Mitleid. Deshalb haben wir in erster Linie mit anderen Menschen, aber oft auch mit Tieren Mitleid.
Bedingung 6: Nicht jedes Wesen kann Mitleid empfinden. Um Mitleid empfinden zu können, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein:
Bedingung 6.1: Um Mitleid empfinden zu können, müssen wir wahrnehmungsfähig sein. Wir müssen sehen, hören, lesen, dass jemand leidet. Else H. muss sehen und hören können. Sonst erführe sie nichts vom Elend der afrikanischen Kinder.
Bedingung 6.2: Um Mitleid empfinden zu können, müssen wir in der Lage sein, uns in gewissem Sinne in andere hineinzuversetzen. Wir müssen uns vorstellen können, wie es anderen geht. Vielleicht hat Else H. mit ihrer Familie den Hungerwinter 1946 – 1947 erlebt und kann sich deshalb sehr gut vorstellen, wie es den Menschen in Biafra geht. Oder Else H. war von Beruf Englischlehrerin und hat viele Bücher über die große Hungersnot in Irland 1845 – 1849 gelesen.
Bedingung 6.3: Um Mitleid empfinden zu können, dürfen wir nicht im eigenen Elend versinken. Wer völlig eingekapselt ist in der eigenen Not, hat keinen Blick mehr für andere. Nehmen wir an, Else H.s Tochter und Enkelkind wären gerade bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Else H. wäre gänzlich mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt. Sie hätte keinen Raum mehr für fremdes Leid.
Bedingung 6.4: Um Mitleid empfinden zu können, dürfen wir keine völlig verbitterten Menschenfeinde sein. Ein verbitterter Menschenfeind glaubt, alle Menschen sind schlecht und verdorben und verdienen es deshalb, dass es ihnen schlecht geht. Wer sein Elend jedoch verdient, mit dem haben wir kein Mitleid.
Die aufgeführten Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Mitleid entstehen kann, beziehen sich (A) zum Teil auf die Person, die Mitleid empfindet oder Mitleid empfinden könnte; die Bedingungen beziehen sich (B) zum Teil auf die Person, die bemitleidet wird; die Bedingungen beziehen sich (C) zum Teil auf das Ereignis, welches der bemitleidenswerten Person zustößt.
Die Person, die (A) Mitleid empfindet nenne ich den Mitleidenden oder die Mitleidende; die Person, die (B) bemitleidet wird, nenne ich den Bemitleideten oder die Bemitleidete; das (C) üble Ereignis, welches der Bemitleideten zustößt, nenne ich das Mitleidsübel.
Mitleid ist ein unangenehmes, schmerzliches Gefühl (vgl. Bedingung 3). Dieser Schmerz entsteht, weil wir das Leid anderer Menschen oder Tiere wahrnehmen. Wer nun Schmerz empfindet, will den Schmerz loswerden. Also wollen wir unser Mitleid loswerden oder mildern. Else H. quälen die Bilder der hungernden Kinder. Else H. hat nun zwei Möglichkeiten, diese Mitleidsqual zu lindern:
Linderungsmöglichkeit 1: Else H. hilft den Kindern. Sie spendet an die Welthungerhilfe.
Linderungsmöglichkeit 2: Else H. schaltet den Fernseher ab und vermeidet es, Sendungen anzuschauen, in denen von Biafra berichtet wird.
Mitleid führt somit nicht immer dazu, anderen zu helfen. Es gibt, so Linderungsmöglichkeit 1, Mitleid mit Hilfe; und es gibt, so Linderungsmöglichkeit 2, Mitleid ohne Hilfe.
Mitleid ist, grob gesprochen, ein Schmerz über fremdes Unglück oder Leid.
Aus dieser groben Erklärung des Mitleids lassen sich Gegenteile des Mitleids ableiten.
Die Gegenteile des Mitleids ergeben sich, indem (a) das Merkmal Schmerz ersetzt wird durch das Merkmal Freude oder (b) das Merkmal Unglück ersetzt wird durch das Merkmal Glück.
Das erste Gegenteil des Mitleids ist der Neid. Neid ist ein Schmerz über fremdes Glück. Mitleid und Neid haben gemeinsam, dass sie ein Schmerz sind. Mitleid und Neid unterscheiden sich, indem beim Mitleid sich der Schmerz auf das Unglück anderer bezieht, beim Neid sich der Schmerz hingegen auf das Glück anderer bezieht.
Das zweite Gegenteil des Mitleids ist die Schadenfreude. Schadenfreude ist die Freude über fremdes Unglück. Mitleid und Schadenfreude haben gemeinsam, dass sie sich auf fremdes Unglück beziehen. Mitleid und Schadenfreude unterscheiden sich, indem beim Mitleid das fremde Unglück Schmerz erzeugt, während das fremde Unglück bei der Schadenfreude Freude erzeugt.
Das dritte Gegenteil des Mitleids ist die Mitfreude. Mitfreude ist die Freude über fremdes Glück. Mitfreude unterscheidet sich vom Mitleid doppelt: Mitfreude bezieht sich auf fremdes Glück, während Mitleid sich auf fremdes Unglück bezieht. Mitfreude ist eine Freude, während Mitleid ein Schmerz ist.
Mitfreude unterscheidet sich einerseits der Bedeutung nach vom Mitleid also am stärksten. Doch ähnelt die Mitfreude dem Mitleid andererseits in zwei Punkten:
Erstens ähneln sich Mitfreude und Mitleid, weil beide Gefühle gut und richtig zu sind. Es ist gut und richtig, mit anderen zu fühlen.
Zweitens sind Mitleid und Mitfreude Gefühle, durch die wir uns mit anderen Menschen im Gleichklang befinden. Wir leiden im Mitleid dann, wenn andere leiden; wir freuen uns in der Mitfreude dann, wenn andere Freude haben.
Neidische und schadenfrohe Menschen hingegen befinden sich im Missklang mit anderen: Wir leiden im Neid dann, wenn andere sich freuen; wir freuen uns in der Schadenfreude dann, wenn andere leiden.
Obwohl wir in der Regel Mitleid für gut und richtig halten, gibt es einen Streit zwischen Mitleidsfreunden und Mitleidsfeinden.
Die Mitleidsfreunde sagen:
- Mitleid ist gut, weil es zu einem Gleichklang im Fühlen führt, wie auch die Mitfreude.
- Mitleid, so sagen die Mitleidsfreunde, ist auch gut, weil es uns veranlasst, Menschen in Not zu helfen.
Die Mitleidsfeinde hingegen haben auch gute Gründe. Die Mitleidsfeinde sagen:
- Mitleid vermehrt das Leid in der Welt. Ohne Mitleid würden nur die Kinder in Biafra leiden; mit Mitleid leiden nicht nur die Kinder in Biafra, sondern auch viele andere Menschen, die die Nachrichten schauen.
- Mitleid verführt dazu, Schmerz auch dort zu lindern oder zu vermeiden, wo der Schmerz zugemutet werden muss: Else H. hat sich nach dem Tod ihres Mannes Erwin einen süßen, kleinen Dackelwelpen gekauft. Else hat den Welpen Wolfi getauft. Wolfi ist nun 12 Wochen alt und müsste gegen Staupe geimpft werden. Else aber hat ganz viel Mitleid mit dem süßen Wolfi und geht nicht zur Impfung, weil Wolfi so viel Angst vor dem Tierarzt hat. An Wolfis zweitem Geburtstag bekommt er Durchfall und muss sich erbrechen. Kurze Zeit später wirkt er verwirrt und ängstlich. Nun geht Else doch zum Tierarzt. Der Tierarzt sagt: „Wir müssen Wolfi einschläfern. Er hat Staupe. Er ist bereits blind und das Gehirn ist beschädigt.“ Elses Mitleid ist schuld an Wolfis frühem Tod.
- Manchmal ist es regelrecht unsere Pflicht, anderen Menschen oder auch Tieren Schmerzen zuzufügen. Eine Kinderärztin muss einem Kind manchmal Schmerzen zufügen, damit das Kind gesund wird. Eine Richterin muss eine Verbrecherin bestrafen. Mitleid würde die Ärztin oder die Richterin dazu verführen, gegen die Pflicht zu handeln. Das wäre schlecht.
- Mitleid ist Gotteslästerung. Gott hat die Welt gerecht eingerichtet. Wer leidet, leidet, weil Gott dies will. Mitleidige Menschen empfinden Schmerz über etwas, was Gottes Wille ist. Das ist eine Form von Gotteslästerung. Die Menschen sollen sich dem Willen Gottes beugen.
- Und auch mit der Hilfe aus Mitleid ist es nicht weit her, sagen die Mitleidsfeinde. Denn erstens folgt aus dem Mitleid gar nicht unbedingt Hilfe. Manchmal veranlasst uns das Mitleid nur dazu wegzuschauen. Und zweitens ist Hilfe aus Mitleid ganz zufällig. Mitleidshilfe ist zufällig und unzuverlässig aus zwei Gründen: (a) Das eine Mal fasst uns das Mitleid, das andere Mal nicht. Hilfe würde zu einer Sache der Laune. Wir sollten aber nicht helfen, je nach dem, wie wir gerade gestimmt sind. Wir sollten helfen, weil es richtig und vernünftig ist, ganz gleich, ob wir gerade Mitleid empfinden oder nicht. (b) Mitleid stellt sich erst ein, nachdem wir fremdes Leid anschaulich vor Augen haben. Was uns in dieser Weise anschaulich vor Augen tritt, ist jedoch zufällig
- Mitleid ist im Grunde eine versteckte Überheblichkeit. Wer Mitleid empfindet, maßt sich an, darüber zu urteilen, wie es anderen geht: So hat Else H. immer tiefes Mitleid mit den obdachlosen Säuferinnen im Stadtpark. Aber vielleicht empfinden die Säuferinnen ihre Lage gar nicht als so schlimm; vielleicht haben sie sich bewusst dazu entschieden, so zu leben.
Es gibt Gefühle, die leicht mit dem Mitleid verwechselt werden können. Diese Gefühle ähneln dem Mitleid. Diese Gefühle sind aber vom Mitleid zu unterscheiden.
Vom Mitleid ist zunächst das Miteinanderfühlen zu unterscheiden: Else K.s Dackel Wolfi hat schrecklichen Durchfall und muss sich erbrechen. Zudem leidet er unter heftigen Krämpfen. Wolfi ist Elses Ein und Alles. So leidet Else, sobald es Wolfi schlecht geht. Wenn wir einem anderen Wesen, einem anderen Menschen oder einem Tier sehr nahe stehen, dann leiden wir unmittelbar mit. Diese Nähe gibt es zwischen Eltern und Kindern, zwischen Lebenspartnern, zwischen engen Freunden. Kurz: Sobald wir jemanden sehr gerne mögen oder gar lieben, betrifft uns alles, was dem anderen widerfährt, in gewisser Hinsicht selbst. Mitleid jedoch setzt einen gewissen Abstand zwischen der Person, die leidet, und der Person, die Mitleid hat, voraus. Ohne diesen Abstand haben wir kein Mitleid, sondern das Leid des anderen ist mehr oder minder sofort und unmittelbar unser Leid.
Vom Mitleid sind sodann die Fälle zu unterscheiden, in denen fremdes Leid üble Folgen für uns hat: Waldemar von Igelburg ist ein verbummelter Student der Rechtswissenschaften. Lieber besucht er den Biergarten als die Vorlesung. Und abends sitzt er nicht am Schreibtisch und lernt, sondern geht ins Kino. Die Vormittage verschläft er. Seine Eltern haben ihm schon lange die Unterstützung gestrichen. Sein Großonkel, Bernfried von Igelburg, zu dem Waldemar eigentlich kaum eine Beziehung hat, überweist Waldemar aber jeden Monat 1.300 €. Eines Tages erfährt Waldemar, dass sein Großonkel Bernfried an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt ist und bald sterben wird. Waldemar erfüllt dies mit tiefem Kummer. Waldemars Kummer bezieht sich jedoch nicht auf Onkel Bernfried, sondern auf sich selbst. Mit dem Tod des Onkels endet auch Waldemars behagliches Bummelleben, denn dann ist es vorbei mit den monatlichen Überweisungen! Mitleid geht es um den anderen; Waldemar empfindet also kein Mitleid, obwohl dies so aussehen könnte. Waldemar geht es nur um sich selbst.
Selbst die Mitleidfreunde werden zugeben, dass es auch falsches oder verfehltes Mitleid gibt. Hier sind einige Formen des falschen oder verfehlten Mitleids:
- Es ist verfehlt, andere wegen einer lächerlichen Kleinigkeit zu bemitleiden. Elses armen Wolfi mit Tränen zu bemitleiden, weil der seine Milchzähne verliert, ist lächerlich.
- Es ist verfehlt, andere wegen etwas zu bemitleiden, was ihnen zuzumuten ist. Manchmal ist es nicht schön, früh aufzustehen, um zur Arbeit zu gehen. Einen gesunden Erwachsenen aber zu bemitleiden, weil er früh zur Arbeit muss, ist weichlich.
- Es ist verfehlt, andere zu bemitleiden, obwohl sie das Übel verdient haben. Einen Spitzenverdiener, der wegen Steuerhinterziehung im Gefängnis muss, zu bemitleiden, ist bedenklich.
- Es ist verfehlt, andere zu bemitleiden, die sich das Übel wissentlich und willentlich selbst zugezogen haben. Heike S. ist eine begeisterte Porschefahrerin. Wieder und wieder hat ihr Freund sie gewarnt, nicht so zu rasen. Eines Tages verursacht sie auf der Autobahn mit 220 Stundekilometer einen Unfall. Nun sitzt sie im Rollstuhl. Sie zu bemitleiden wäre seltsam.
- Verfehlt und peinlich ist es, in übertriebener Weise sein Mitleid zur Schau zu stellen. Wenn Else H. bei jedem Kaffeekränzchen weit und breit und mit Rührungstränen ihr Mitleid mit den armen Kindern in Biafra wieder und wieder äußert, haben wir den Verdacht: Mit diesem Mitleid stimmt etwas nicht. Else suhlt sich gleichsam genüsslich in fremdem Leid.