Ich beginne mit einem Beispiel:
Marie Pech ist Klavierlehrerin. Sie wohnt in einer kleinen Wohnung in einer versifften Siedlung in der Vorstadt. Marie Pech ist 60 Jahre alt und geschieden. Ihr Mann hat sie wegen einer jüngeren Kollegin verlassen. Marie Pechs Schulfreundin und Kollegin Gloria Sonnenschein hat völlig überraschend üppig geerbt und sich eine Villa im edelsten Viertel der Stadt gekauft. Gloria Sonnenschein hat einen jugendlichen Liebhaber: Pierre, ein begabter Jazzpianist. Ab und an wird Marie Pech zu Hauskonzerten in die Villa Sonnenschein eingeladen. Neben Musik gibt es dann Austern, Kaviar und Lachs zu einem Dom Pérignon Rosé 1996.
Marie Pech könnte auf Gloria Sonnenscheins Glück neidisch sein. Marie Pech muss aber nicht neidisch sein. Würde ich Marie Pech fragen, was sie angesichts des Glücks ihrer Kollegin, empfindet, könnte Marie Pech viele unterschiedliche Antworten geben. Es lohnt sich, diese Antworten durchzugehen, weil auf diese Weise klar wird, was Neid ist.
Antwort 1: Marie könnte es völlig gleichgültig sein, ob es Gloria gut oder schlecht geht. Das ist zwar schwer vorstellbar, aber es ist nicht unmöglich. Wem fremdes Glück gleichgültig ist, ist nicht neidisch.
Antwort 2: Es ist Marie nicht gleichgültig, ob es Gloria gut oder schlecht geht.
Antwort 2 zerfällt in zwei Unterantworten.
Antwort 2.1: Marie Pech freut sich mit Gloria Sonnenschein über Glorias Glück. Marie empfindet Mitfreude. Vielleicht mag Marie Pech Gloria Sonnenschein sehr und gönnt Gloria Sonnenschein die Villa, den jugendlichen Liebhaber und die Champagne-Abende von Herzen. Vielleicht freut Marie sich, weil sie die schönen Abende in der Villa Sonnenschein, Pierres Klavierspiel, das feine Essen so sehr genießt. Oft sitzt sie dann traumverloren im parkähnlichen Garten der Villa auf der Bank am kleinen Teich, ein Glas Dom Pérignon in der Hand, während die Musik sehnsuchtsvoll durch die dämmernd-laue Abendluft sachte an ihr Herz weht.
Wer sich über fremdes Glück freut, ist nicht neidisch.
Antwort 2.2: Marie Pech empfindet Schmerz.
Antwort 2.2 zerfällt weiterhin in fünf Unterantworten.
Antwort 2.2.1: Glorias Glück ist für Marie nachteilig. Das tut weh. So könnte Gloria ihre Stelle an der Musikschule gekündigt haben, weil sie nun genug Geld hat. Glorias Schüler und Schülerinnen werden nun auf die anderen Lehrer und Lehrerinnen verteilt. Dies führt dazu, dass Marie noch mehr unterrichten muss. Schon jetzt ist sie mit ihrer Kraft am Ende. Sie kann die Mehrarbeit aber auch nicht ablehnen, weil ihr sonst unter Umständen gekündigt würde. Und schlimmer noch: Bisher hat Gloria die Klavierabteilung der Musikschule geleitet. Die Leitung übernimmt nun Egon Weich. Egon Weich ist ein Ekel. Nach unten tritt er, nach oben buckelt er. Insbesondere Marie wischt er eins aus, wo immer er kann.
Wen fremdes Glück nur deshalb schmerzt, weil das Glück der anderen für ihn nachteilige Folgen hat, der ist nicht neidisch.
Antwort 2.2.2: Marie ist empört. In Maries Augen ist Glorias Glück eine schreiende Ungerechtigkeit. Gloria hat es einfach nicht verdient. Vielleicht ist Gloria faul, eitel und strohdumm, während sie, Marie, doch fleißig, bescheiden und klug ist. Vielleicht hat Gloria sich das Erbe auf eine widerwärtige Weise erschlichen!
Wer sich empört, ist nicht neidisch.
Antwort 2.2.3: Marie fuchst es, dass es Marie so gut geht. Sie beginnt sie grübeln, ob ihr das nicht auch gelingen könnte. Ihr Ehrgeiz ist geweckt. Da fällt ihr Onkel Alfred ein. Wieso hat sie an den nicht schon früher gedacht?! Onkel Alfred ist steinreich, uralt, ein Ekel und einsam. Er wohnt in einem hübschen Häuschen mit Garten nahe der Villa Sonnenschein. Onkel Alfred wollte sein Vermögen seiner Pudelhündin Yvonne vererben. Doch die ist nun vor ihm an Eierstockkrebs verschieden. Gedacht, getan! Marie besucht Onkel Alfred nun jedes Wochenende. Sie kocht für ihn, kauft ein, spielt ihm auf dessen alten Steingräber-Flügel Chopins Nocturne Nr. 20 vor. Dann fängt er an zu weinen und schläft später ein. Maries Plan geht auf: Onkel Alfred stirbt bald an Leberkrebs und hinterlässt Marie Haus, Flügel und ein beträchtliches Aktiendepot! Bald wohnt Marie Pech in Onkel Alfreds Häuschen. Über die Eingangstür lässt sie ein Schild anbringen: Haus Nocturne.
Wen der Schmerz über fremdes Glück ehrgeizig anstachelt, ist nicht neidisch!
Antwort 2.2.4: Marie hat sich im Grunde mit ihrem Schicksal abgefunden. Doch immer dann, wenn ihr Glorias Glück vor Augen steht, zieht sich ihr Herz zusammen. Eine tiefe Traurigkeit erfasst sie und sie muss weinen. Elend und Jammer ihres eigenen Lebens werden Marie in solchen Momenten krass bewusst. Ihr Schmerz, ihre Traurigkeit, bezieht sich nicht eigentlich auf Glorias Glück. Glorias Glück macht Marie nur erneut bewusst, was alles in Maries kleinen, armen Leben schief ging.
Ein solch reiner, schlichter Trauerschmerz ist kein Neid.
Antwort 2.2.5: Marie ist nicht einfach nur traurig, Marie fürchtet keine Nachteile, Marie packt nicht der Ehrgeiz, Marie ist nicht empört: Marie erträgt es einfach nicht, dass es Gloria so gut geht. Sie könnte platzen! Glorias Glück ist eigentliche Ursache und eigentlicher Grund dafür, dass Marie einen fast körperlichen Schmerz empfindet. Die einfache Tatsache, dass es Gloria gut geht, und ihr, Marie, schlecht geht, nährt Maries Schmerz. In diesem Fall nennen wir Marie neidisch.
Neid erträgt das Glück anderer nicht. Neid will nicht, dass es anderen besser geht. Dem Neid ist es dabei völlig egal, ob ihm das fremde Glück schadet oder nutzt, ob das fremde Glück gerecht oder ungerecht ist. Dabei geht es dem Neid oft gar nicht so sehr um das Gut selbst. Den Neid quält die schlichte Tatsache, dass andere das Gut haben. Das fremde Glück an sich ist dem Neid ein Stachel im Fleisch!
Wir alle machen die Erfahrung, dass es anderen besser geht als uns. Es gibt viele Möglichkeiten, mit der Erfahrung, dass es anderen besser geht als uns, umzugehen. Der Neid ist eine ganz besondere Art, mit dieser Erfahrung umzugehen.
Neid ist ein Schmerz über fremdes Glück und Wohlergehen.
Es gibt drei Möglichkeiten, wie der Neid zur Ruhe kommen kann:
Möglichkeit 1 ist gegeben, sobald es Marie und Gloria es gleich schlecht geht: Gloria verliert ihr Glück: Die Villa brennt ab; Pierre verlässt Gloria. Nun geht es beiden, Marie und Gloria, wieder gleich schlecht. Die Waage ist wieder im Gleichgewicht. Die neidische Marie ist nun beruhigt. Vielleicht freut sie sich innerlich sogar.
Möglichkeit 2 ist gegeben, sobald es Marie und Gloria gleich gut geht: Marie erbt unerwartet vier Millionen Euro. Sie kauft sich ein hübsches Häuschen mit Garten in einem ruhigen Teil der Stadt; im Wohnzimmer steht nun ein Blüthner-Flügel und auch die große Liebe lässt nicht auf sich warten: Zufällig trifft sie ihre Jugendliebe, Francois, wieder. Der ist mittlerweile Witwer. Bald sind Marie und Francois ein glücklich verliebtes Paar.
Möglichkeit 3 ist gegeben, sobald es Marie es besser als Gloria geht: Gloria verliert ihr Glück. Marie hingegen macht ihr Glück. Glorias Villa brennt ab. Pierre verlässt Gloria. Marie hingegen erbt Onkel Alfreds Haus samt Flügel und Vermögen. Eines Abends steht Pierre mit einer Flasche Taitinger und einer duftenden Rose vor ihrer Tür! Nun geht es Gloria schlecht und Marie gut. Die Waage ist im Ungleichgewicht, aber genau umgekehrt. Die vordem neidische Marie jubelt innerlich.
Der Neid hat zwei Stufen.
Stufe 1 nenne ich den inneren Neid: Der Neid bleibt innerlich: Marie wird zwar innerlich zerfressen vom Neid auf Gloria, aber Marie tut nichts Schlimmes.
Stufe 2 nenne ich den äußeren Neid: Der Neid wird äußerlich: Marie lästert über Gloria in der Musikschule; sie erzählt Pierre, dass Gloria sich im Grunde über ihn, Pierre, lustig mache; eines Nachts zerkratzt sie den Lack von Glorias Jaguar E und bricht den Außenspiegel ab; Marie macht Gloria all die schönen Dinge madig.