Thomas Nisters

Wörterbuch
philo­sophischer Alltags­begriffe

Schadenfreude

Begriffserklärung

Ich beginne mit zwei Beispielen:

Ruben und Benjamin arbeiten zusammen in der Küche. Sie machen den Abwasch. Benjamin bückt sich, um einen Topf einzuräumen. Als er aufsteht, stößt Benjamin sich den Kopf an der offenen Türe des Hängeschranks. Ruben unterdrückt ein schadenfrohes Lachen.

Leonies Mutter hat einen Mops. Der Mops heißt Stups. Stups ist fast blind. Immer wenn Leonies Mutter nach Hause kommt, freut sich Stups und rennt zur Haustür. Dieses Mal ist die Glastür des Wohnzimmers zu, als Leonies Mutter nach Hause kommt. Als Stups den Schlüssel in der Haustür hört, springt Stups freudig aus seinem Körbchen. Er rennt los und knallt gegen die Glastür. Leonie lacht vor Schadenfreude.

Mit Hilfe dieser Beispiele lassen sich drei Eigenschaften der Schadenfreude verdeutlichen.

Eigenschaft 1 ist der Schadensbezug der Schadenfreude: Schadenfreude bezieht sich auf einen Schaden. Es passiert etwas Schlimmes. Benjamin stößt sich den Kopf. Stups rennt vor eine Glastür. Schadenfreude stellt sich somit nicht ein, sobald etwas Gutes oder etwas, was weder gut noch übel ist, passiert. Schadenfreude stellt sich ein, sobald etwas Übles passiert.

Eigenschaft 2 ist der Fremdbezug der Schadenfreude: Der Schaden betrifft jemand anderen. Natürlich würde sich Leonie nicht darüber freuen, selbst vor eine Glastür zu rennen; Ruben würde sich nicht darüber freuen, sich selbst den Kopf zu stoßen. Leonie und Ruben freuen sich über den Schaden anderer.

Eigenschaft 3 ist der Freudenbezug der Schadenfreude: Der Schaden des anderen ruft Freude hervor. Es ist ja auch denkbar, dass der Schaden des anderen mir leid tut oder dass der Schaden des anderen mir gleichgültig ist. Schadenfreude unterscheidet sich somit vom Mitleid und von der Gleichgültigkeit.

Aus diesen drei Eigenschaften lässt sich eine erste kurze, vorläufige Erklärung dessen ableiten, was Schadenfreude ist: Schadenfreude ist die Freude (Eigenschaft 3) über einen Schaden (Eigenschaft 1), der einem anderen (Eigenschaft 2) zustößt.

Aber nicht immer ist die Freude über fremden Schaden Schadenfreude. Manchmal freuen sich Menschen über den Schaden einer anderen Person, ohne dass wir von Schadenfreude sprechen. Die Frage, ob Schadenfreude vorliegt, hängt von der Antwort auf eine weitere Frage ab: Wieso freuen wir uns über fremden Schaden? Der Grund der Freude ist wichtig. Nun gibt es viele Gründe, sich über fremden Schaden zu freuen. Ich betrachte nun sechs Gründe, sich über fremden Schaden zu freuen, und überlegen, ob Schadenfreude vorliegt oder nicht.

Grund 1, sich über fremden Schaden zu freuen, liegt vor, sobald der Schaden des anderen für mich nützlich und vorteilhaft ist. Ich bekomme etwas Gutes, weil andere einen Schaden erleiden. Hier ist ein Beispiel für solche Nutzenfreude:

Lisa hat eine steinreiche Tante, Tante Gisela. Tante Gisela ist eine verbitterte, bösartige alte Hexe. Tante Gisela wohnt in einer riesigen Villa am Stadtrand. Zudem ist Tante Gisela geizig. Lisa hingegen ist alleinerziehend, wohnt in einer schimmeligen Sozialwohnung und bringt sich und ihre Kinder mit Nachtarbeit in einer Fabrik über die Runden. Eines Tages erkrankt Tante Gisela an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Es gibt keine Hoffnung. Lisa freut sich, weil sie Tante Giselas gesamtes Vermögen erben wird.

Hier ist es nicht der Schaden selbst, über den sich Lisa freut; Lisa freut sich darüber, bald genug Geld zu haben und in die Villa ziehen zu können.

Manchmal besteht der Nutzen oder der Vorteil auch darin, dass wir einem Übel entgehen. Mir bleibt ein Übel erspart, weil andere einen Schaden erleiden. Auch dann freuen wir uns. Hier ist ein Beispiel:

Leanders Mutter ist alleinerziehend. Seit einiger Zeit ist sie mit dem Ekel Egon zusammen. Leander hasst Ekel-Egon. Ekel-Egon meckert immer nur an Leander herum. Er verpestet die ganze Wohnung mit dem Rauch seiner Zigaretten. Er ist ein widerlicher Besserwisser. Eines Tages sagt die Mutter zu Leander: „Stelle Dir vor, dieses Jahr fährt Egon mit in unser Ferienhäuschen. Ist das nicht schön!“ Schon bei der Vorstellung wird Leander schlecht. Doch zwei Wochen vor dem Schreckensurlaub bricht sich Egon einen Halswirbel, weil er betrunken mit dem Fahrrad gestürzt ist. Er liegt still und eingegipst im Krankenhaus. Leander möchte Luftsprünge machen, weil er nun mit seiner Mutter alleine Urlaub macht.

In Fällen der Nutzenfreude rede ich nicht von Schadenfreude.

Grund 2 sich über fremden Schaden zu freuen liegt vor, sofern es richtig und gerecht ist, dass der andere einen Schaden erleidet. Hier ist ein Beispiel für solche Gerechtigkeitsfreude:

Armin ist der Schrecken der Klasse. Er ist zwei Mal sitzen geblieben. Deshalb ist er größer und stärker als alle anderen. Er nimmt anderen die Schulbrote, manchmal sogar Geld weg. Die Mädchen begrapscht er. Alle haben Angst vor ihm. Eines Tages kommt eine neue Schülerin: Fatma. Fatma trägt ein Kopftuch. Gleich in der ersten Pause pöbelt Armin Fatma an und reißt ihr das Kopftuch herunter. Womit Armin nicht gerechnet hat: Fatma hat den Schwarzen Gürtel in Taekwondo. Ehe er sich versieht, liegt er mit einem blauen Auge, einer aufgeplatzten Lippe  und einer gebrochenen Nase auf dem Boden – K. o. Alle freuen sich. Nun hat Armin endlich seine Strafe bekommen.

In Fällen der Gerechtigkeitsfreude rede ich nicht von Schadenfreude. Die Freude über Armins blaues Auge, über seine aufgeplatzte Lippe und seine gebrochene Nase wird eher als Genugtuung bezeichnet.

Grund 3 sich über fremden Schaden zu freuen liegt vor, sofern der Schaden des anderes uns tröstet oder uns erleichtert. Hier ist ein Beispiel für solche Trostfreude:

Günther kommt aus einer durchschnittlichen Familie; Günther selbst ist völlig durchschnittlich. Er ist nicht besonders fleißig und nicht besonders faul; er ist weder besonders sportlich noch ist er in Sport eine Niete; in der Schule glänzt er nicht, ist aber auch kein Versager. Günthers Mutter, Käthe, aber ist sehr ehrgeizig. Sie hätte gerne einen Super-Günther als Sohn, mit dem sie überall angeben kann. Deshalb bekommt Günther immer Gabriel, seinen Cousin vor die Nase gehalten. Gabriel gewinnt bei Jugend-Musiziert; Gabriel schreibt nur Einsen; Gabriel hilft im Haushalt; Gabriel hilft lernschwachen Schülern. Kurzum: Gabriel ist Super-Gabriel. Das jedenfalls erzählt Tante Sophie ihrer Schwester Käthe. Doch eines Tages fliegt alles auf. Tante Sophie hat nur angegeben: Gabriel muss die Schule verlassen wegen schlechter Leistungen; es kommt heraus, dass er Sozialstunden leisten muss, weil er schwarzgefahren ist und beim Klauen erwischt wurde; Tante Sophie muss Schulden bezahlen, die Gabriel beim Pokern am Computer gemacht hat. Günther kann nun aufatmen, seine Mutter quengelt nicht mehr und er muss sich nicht mehr schlecht fühlen.

Auch in Fällen der Trostfreude rede ich nicht von Schadenfreude.

Grund 4 sich über fremden Schaden zu freuen liegt vor, sofern wir hoffen dürfen, dass andere, sofern sie Schaden erlitten haben, uns besser verstehen. Denn: Manchmal geht es uns schlecht und keiner versteht uns. Dadurch nun, dass der andere einen Schaden erleidet, beginnt er, uns zu verstehen. Hier ist ein Beispiel für solche Freude darüber, verstanden zu werden:

Clara sitzt im Rollstuhl. Alle ihre Freunde können laufen. Oft fühlt Clara sich unverstanden. Keiner weiß, wie es ist, an diesen verdammten Rollstuhl gefesselt zu sein. Eines Tages bricht sich Laura, Claras Freundin beide Beine. Die Beine werden gegipst. Nun sitzt auch Laura für eine Zeit im Rollstuhl. Clara freut das. Clara hofft, dass Laura nun mehr Verständnis für Clara aufbringt.

Ob Claras Freude, vielleicht könnte man von Verständnisfreude sprechen,  über Lauras Unfall als Schadenfreude zu bezeichnen ist, ist zweifelhaft.

Grund 5 sich über fremden Schaden zu freuen, liegt vor, sofern es einfach lustig und spaßig ist, zu sehen, wie andere stolpern, ausrutschen, gegen eine verschlossene Glastür laufen. Das ist die Freude, die tollpatschige Clowns bei manchen Menschen auslösen.

Ob Fälle der Spaßfreude als Schadenfreude zu bezeichnen sind, ist fraglich.

Grund 6 sich über fremden Schaden zu freuen, liegt in einer feindseligen Einstellung anderen gegenüber. Manchmal nämlich hegen wir anderen Menschen gegenüber feindselige Gefühle wie Neid, Eifersucht, Ärger, Hass. Wenn diesen Menschen etwas Schlimmes zustößt, dann freuen wir uns.

Der blonde, große Björn ist der Schwarm aller Mädchen. Torben ist klein, pummelig, trägt eine Zahnspange und hat Pickel. Die Mädchen beachten Torben nicht. Eines Tages bricht bei Björn eine schlimme Akne aus. Jetzt heißt Björn bei den Mädchen nur noch Pickelfresse und wird ausgelacht. Torben freut sich.

Die Feindseligkeitsfreude, die Torben empfindet, dürfte tatsächlich der eigentlichen, reinen Schadenfreude sehr ähnlich sein.

In sechs diesen Fällen gibt es jeweils einen Grund zur Freude über fremden Schaden. Dass andere Schaden erleiden ist nützlich, witzig, gerecht, tröstlich. In diesen sechs Fällen würde ich aber nicht von Schadenfreude im reinen, eigentlichen Sinne sprechen.

Es gibt aber auch Fälle, in denen sich jemand ganz ohne Grund über fremden Schaden freut:

Lisa erfährt, dass Kati sich beide Arme gebrochen hat. Lisa freut das. Dabei hat Lisa mit Kati nichts zu tun. Katis Unglück bringt Lisa keinen Vorteil. Wir fragen Lisa: „Wieso freust Du Dich über Katis Armbruch?“ Lisa zuckt die Achseln und grinst. Sie hat keine Antwort.

Fremder Schaden ist für Lisa an sich etwas Gutes. Ganz sicher werden wir Lisa als schadenfroh bezeichnen. Mehr noch: Lisa empfindet Schadenfreude in der reinsten, eigentlichsten Form. Unsicher ist allerdings, ob es das bei Menschen überhaupt gibt. Können wir Menschen reine, grundlose Freude an fremdem Schaden haben? Oder können nur Teufel das?

Soweit meine Überlegungen, was Schadenfreude ist.

Wie äußert sich Schadenfreude?

Hier sind verschieden Formen zu unterscheiden:

Form 1 ist die stille Schadenfreude, die sich gar nicht zeigt.

Form 2 ist die Schadenfreude, die sich zeigt, ohne dass dies beabsichtigt ist: unsere Augen leuchten, wir müssen lachen.

Form 3 ist die Schadenfreude, die wir absichtlich zeigen. Je nach dem, wem gegenüber wir unsere Schadenfreude zeigen, sind drei Fälle zu unterscheiden: Bisweilen zeigen wir die Schadenfreude (Form 3.1) gegenüber dem, der einen Schaden erleidet. Bisweilen zeigen wir die Schadenfreude (Form 3.2) gegenüber Dritten. Bisweilen zeigen wir die Schadenfreude gegenüber (Form 3.3) dem, der den Schaden hat, und gegenüber Dritten.

Fragen

  1. Am Ende des Artikels steht: Manchmal zeigt sich nicht, dass ich Schadenfreude empfinde. Manchmal zeigt sich, dass ich Schadenfreude empfinde. Welche Beispiele gibt es für den Fall (Form 3.1), in dem ich meine Schadenfreude dem gegenüber zeige, der den Schaden erleidet? Welche Beispiele gibt es für den Fall (Form 3.2), in dem ich meine Schadenfreude Dritten gegenüber zeige? Und welche Beispiele gibt es für den Fall (Form 3.3), in dem ich meine Schadenfreude sowohl gegenüber dem Geschädigten als auch gegenüber Dritten zeige?

  2. Glaubst Du, dass wir Menschen ohne jeden Grund reine Schadenfreude empfinden können? Oder können das nur Teufel?

  3. Versuchen schadenfrohe Menschen anderen Menschen bewusst Schaden zuzufügen? Oder sind schadenfrohe Menschen nur Zuschauer und nicht Täter?

  4. Bezieht sich Schadenfreue auf alle Übelarten? Übelarten wären kleine Übel, große Übel, seelische Übel, körperliche Übel etc.

  5. Schämen wir uns dafür, schadenfroh zu sein?

  6. Gibt es unter Freunden Schadenfreude?

  7. Fremder Schaden kann viele Gefühle hervorrufen, etwa Mitleid oder Empörung. Ruft fremder Schaden neben Mitleid oder Empörung noch andere Gefühle hervor? Welche Gefühle wären dies? Wie unterscheiden sich diese von der Schadenfreude?

  8. Wir können Schadenfreude empfinden bei anderen Menschen. Können wir auch Schadenfreude empfinden, weil Tieren, Pflanzen, Dingen ein Schaden zustößt?

  9. Aristoteles sagt (RHET, 1386 b 33 – 1387 a 3): Schadenfrohe Menschen sind in der Regel neidische Menschen. Stimmt das?

  10. Ich habe im Artikel sechs Gründe angeführt, sich über fremden Schaden zu freuen. Bei welche dieser Gründe (Grund 1 – 6) würdest du, vielleicht anders als ich, von Schadenfreude sprechen?

Quellen

In den Artikel über die Schadenfreude sind Gedanken eingeflossen aus diesem Werk:

Kant, MST, § 36.

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