Ich beginne mit einem Beispiel:
Gerold V. ist nun 70 Jahre alt. Richtig gearbeitet hat er nie. Von seinem Vater hat er 40 Wohnungen geerbt. So konnte er stets fein säuberlich von den Mietzahlungen leben. Richtig zu arbeiten wäre auch unter seiner Würde gewesen, denn Gerold muss sich, wie er es selbst ausdrückt, verwirklichen. Das eine Mal ist es die Malerei, das nächste Mal ist es die Instandsetzung eines alten Bauernhauses, ein weiteres Mal ist es die Schriftstellerei. Und nun ist es die Musik. Gerold spürt, im Grunde ein begnadeter Cellist zu sein. Gesagt, getan: Er ersteigert ein sündhaft teures Cello, sucht sich eine Lehrerin und los geht es. Natürlich beginnt Gerold nicht mit einfachen Stücken. Stücke für Anfänger sind ihm zu läppisch. Vielmehr müssen es sofort die Cello-Suiten des großen Johann Sebastian Bach sein. Was aber herauskommt ist ein elendes Geschrummel, Gebrummel, Gekratze und Gequietsche. Selbst Gerolds Hund Schnuffi flieht mit eingezogenem Schwanz und hochgestelltem Nackenhaar jaulend in den fernsten Winkel des Hauses, sobald Gerold zum Cello greift. Gerold hingegen ist von sich und seinem Spiel entzückt. Gerolds Erbnichte Alma ist die einzige, die sein Spiel freiwillig erträgt. Mehr noch: Alma bittet Gerold bei ihren sonntäglichen Besuchen, ihr, Alma, vorzuspielen, wobei Onkel Gerold Almas Schmerztränen als Rührungstränen missdeutet. Ist die Qual vorbei, klatscht Alma Beifall, fällt Onkel Gerold um des Hals: „Onkel, das ist so schön! Ich habe die Bach-Suiten nie so innig gehört. Unter Deinen Händen singt das Cello! Du bist der zweite Casals. Du musst unbedingt beim nächsten Familienfest ein kleines Konzert geben!“ Später, beim gemeinsamen Tee, erzählt Alma dann eher im Vorbeigehen, dass sie dringend ein neues Auto braucht und ihr ein günstiger Mini Clubman angeboten würde. Sofort überweist Onkel Gerold ihr 2000 Euro.
In diesem Beispiel schmeichelt Alma ihrem Onkel Gerold. Das, was Alma tut, kann als Schmeichelei im vollsten oder engsten Sinne bezeichnet werden. Es gibt möglicherweise auch schwächere Formen des Schmeichelns. Auf die schwächeren Formen des Schmeichels werde ich noch zu sprechen kommen. Es dürfte allerdings hilfreich sein, mit einer Form des Schmeichelns zu beginnen, die krass und eindeutig ist. Ich fasse den Begriff des Schmeichelns mithin zunächst sehr eng. Was Alma in meinem krassen Beispiel tut, folgt einem Muster. Dieses Muster ließe sich so beschreiben:
- Alma sagt etwas Nettes zu Onkel Gerold.
- Was Alma zu Onkel Gerold sagt, soll Onkel Gerold erfreuen. Onkel Gerold zu erfreuen ist Ziel Nummer 1.
- Aber Alma will Onkel Gerold nicht nur eine Freude machen, indem sie etwas Nettes zu ihm sagt. Sie will, dass Onkel Gerold ihr, Alma, gewogen und wohlgesonnen ist. Das ist Ziel Nummer 2.
- Aber selbst Ziel Nummer 2 ist nicht eigentlich das, worum es Alma geht. Im Grunde ihres Herzens ist es ihr ziemlich gleichgültig, ob der alte, eitle Mann sie mag oder nicht. Im Kern geht es ihr darum, dass Onkel Gerold etwas tut, was gut und vorteilhaft für Alma selbst ist. Das ist Ziel Nummer 3. In unserem Beispiel erreicht Alma Ziel Nummer 3: Onkel Gerold zahlt die Hälfte des Mini-Cooper!
Schmeichelei beinhaltet, sofern ich das Grundmuster richtig gezeichnet habe, (1) eine Sprechhandlung, die drei Ziele verfolgt: (2) Freude, (3) Wohlwollen, (4) Vorteile.
Ich schaue nun die Punkte (1) bis (4) genauer an.
Punkt (1) Sprechen: Alma sagt etwas. Das, was Alma sagt, beschreibt nicht in erster Linie das Spiel von Onkel Gerold, sondern Alma bewertet das Spiel von Onkel Gerold. Alma sagt, dass Gerold vorzüglich spielt. Dabei redet Alma zu Onkel Gerold selbst. Man könnte sagen: Sie sagt zu Onkel Gerold etwas Gutes über Onkel Gerold.
Wer schmeichelt, sagt etwas. Schmeicheln ist somit dem Schweigen entgegengesetzt. Alma könnte, nachdem Onkel Gerold ihr vorgespielt hat, nichts sagen.
Wer schmeichelt, sagt etwas zu der Person, der geschmeichelt wird. Schmeicheln ist somit dem Reden über Dritte entgegengesetzt. Alma könnte ja mit ihrer Mutter über Onkel Gerolds Cellospiel reden.
Und: Schmeicheln ist dem Reden über sich selbst entgegengesetzt. Alma könnte nach Gerolds Spiel gleich losplappern, welche Stücke sie selbst gerade auf dem Klavier spielt.
Wer schmeichelt sagt somit etwas über genau die Person, der er schmeichelt. Alma sagt zu Onkel Gerold etwas über Onkel Gerolds Cello-Spiel. Beim Schmeicheln sind der, zu dem gesprochen wird, und der, über den gesprochen wird, ein und dieselbe Person. Empfänger und Gegenstand des Sprechens sind gleich.
Wer schmeichelt, sagt etwas Gutes, Nettes zur Person, der geschmeichelt wird. Schmeicheln ist somit einer Äußerung entgegengesetzt, die etwas Schlechtes zum Inhalt hat oder die etwas zum Inhalt hat, was weder gut noch schlecht ist. Alma könnte ja auch sagen: „Onkel Gerold! Das hört sich an, als würde man einer Katze bei lebendigem Leib die Ohren abschneiden!“ Oder: „Dagegen hört sich das Krächzen einer Krähe wie der Gesang einer Nachtigall an!“ Oder: „Ich habe gestoppt: Du brauchst für das Menuett genau 3 Minuten und 17 Sekunden.“
Punkt (2) Freude: Onkel Gerold freut sich, weil Alma Onkel Gerolds Cello Spiel so wunderbar findet. In der Tat freuen wir uns in der Regel, sobald andere das, was wir tun, schön, gut und richtig finden und uns das auch sagen. Für Alma ist jedoch Onkel Gerolds Freude über Almas Lobhudelei nur ein erster Schritt. Onkel Gerolds Freude ist Ziel Nummer 1. Alma geht es nicht eigentlich darum, Onkel Gerold zu erfreuen. An sich ist es Alma völlig gleichgültig, ob Onkel Gerold sich freut oder nicht. Onkel Gerolds Freude soll dazu führen, dass Onkel Gerold Alma wohlgesonnen ist (Ziel Nummer 2) und etwa tut, was nützlich für Alma ist (Ziel Nummer 3).
Der deutlichste Gegensatz zur Schmeichelfreude liegt vor, sobald wir anderen etwas sagen, was ihnen weh tut.
So sagen wir anderen manchmal etwas, was gar nicht nett ist. Wir fügen anderen auf diese Weise einen Schmerz zu. Hier wären wenigstens drei Unterfälle zu unterscheiden: (3.1) Bisweilen ist der Schmerz des anderen unser eigentliches Ziel: Uns kommt es darauf an, andere zu verletzen: Alma hasst Grete. Wo immer sich eine Gelegenheit bietet, wischt Alma Grete eins aus: „Grete, Du hast ja schon wieder zugenommen! Langsam bist Du richtig fett.“ „Hast Du Dein neues Kleid eigentlich aus dem Lumpensack!“ „Du riechst, als hättest Du Deine Periode und Dich eine Woche nicht geduscht.“ (3.2) Bisweilen ist der Schmerz des anderen nicht unser eigentliches Ziel, aber wir nehmen den Schmerz des anderen in Kauf. So könnte Gretes Ärztin zu Grete sagen: „Frau S., Sie haben schon wieder zugenommen! Das ist sehr schädlich für Ihren Blutdruck!“ (3.3) Bisweilen ist es uns völlig gleichgültig, ob wir anderen wehtun oder nicht. Wir sagen einfach, was uns gerade passt.
Punkt 3 Wohlwollen: Alma möchte, dass Onkel Gerold sie mag. Dieses Wohlwollen soll zu Punkt 4 führen.
Punkt 4 Vorteile: Onkel Gerold soll etwas tun, was für Alma vorteilhaft und nützlich ist. In unserem Beispiel erhofft sich Alma Geld für ihr neues Auto. Letztlich will Alma Onkel Gerold beeinflussen. Nur deshalb tut Alma so, als sei sie von Onkel Gerolds Cello-Spiel so begeistert.
Spannend ist die Frage, wieso Almas Plan aufgeht. Wieso schenkt Onkel Gerold ihr Geld für den Mini-Cooper, nachdem Alma Onkel Gerold Honig um der Bart geschmiert hat? Wieso sind wir denen wohlgesonnen und tun denen Gutes, die uns schmeicheln?
Hier sind drei Vermutungen, wieso wir denen Gutes tun, die uns schmeicheln:
Vermutung 1: Wir denken: Wer uns etwas Nettes sagt, mag uns. Onkel Gerold könnte denken, dass Alma ihn mag. Onkel Gerold möchte nun dieses Wohlwollen nicht verlieren. Deshalb gibt er Alma Geld für das Auto.
Vermutung 2: Gutes, Nettes und Schönes über sich selbst zu hören, ist wie süßer Honig für die Seele. Vielleicht ist Onkel Gerold fast süchtig nach diesem süßen Schmeichelhonig und will sich mehr davon erkaufen, indem er Alma Geld für das Auto gibt.
Vermutung 3: Wir alle haben eine Vorstellung davon, wie wir gerne sein möchten. Ich bezeichne diese Vorstellung als Traum-Ich. Bei manchen Teilen unseres Traum-Ichs sind wir uns sicher, sie zu besitzen. Bei manchen Teilen unseres Traum-Ichs sind wir uns sicher, sie nicht zu besitzen. Bei manchen Teilen unseres Traum-Ichs sind wir uns unsicher, ob wir sie besitzen oder nicht. Teil des Traum-Ich von Onkel Gerold ist, ein begnadeter Cellist zu sein. Da ist er sich aber nicht ganz sicher, obwohl er seine Unsicherheit nicht zeigt. Schmeichelei hilft uns, unsere Unsicherheit zu lindern. Alma hilft Onkel Gerold daran zu glauben, er sei ein begnadeter Cellist. Diese Stärkung seines Glaubens an sein Traum-Ich lässt er sich etwas kosten.
Die Schmeichelei hat keinen guten Ruf. Im Gegenteil: Schmeichler werden verachtet. Diese Verachtung oder Geringschätzung der Schmeichelei könnte vier Gründe haben:
Grund 1: Schmeichelei ist oft unehrlich. Schmeichler lügen bisweilen, wenigstens aber übertreiben sie. Unehrlichkeit und Lüge aber sind schlecht. Und weil Unehrlichkeit und Lüge zur Schmeichelei gehören, ist auch die Schmeichelei schlecht.
Grund 2: Schmeichelei ist selbstsüchtig. Der Schmeichler sucht seinen eigenen Vorteil, oft zum Schaden dessen, den er umschmeichelt. Selbstsucht ist aber schlecht. Und weil Selbstsucht zur Schmeichelei gehört, ist auch die Schmeichelei schlecht.
Grund 3: Schmeichelei ist oft unaufrichtig und verstohlen. Alma möchte Onkel Gerold dazu verleiten, ihr Geld zu schenken. Sie bittet aber Onkel Gerold nicht klar und offen um das Geld. Vielmehr wickelt sie Onkel Gerold mit süßen Worten ein und Onkel Gerold merkt gar nicht, wie Alma ihn beeinflusst. Unaufrichtigkeit und hinterhältige Verstohlenheit aber sind schlecht. Und weil Unaufrichtigkeit und Verstohlenheit zur Schmeichelei gehören, ist auch die Schmeichelei schlecht.
Grund 4: Die Folgen der Schmeichelei sind manchmal schlimm: Onkel Gerold wirft völlig unnütz viel Geld aus dem Fenster für das Instrument und den Unterricht. Er macht sich lächerlich, indem er anderen vorspielt. Er quält seine Zuhörer beim Vorspiel. Andere zu etwas zu verleiten, was nachteilig und schlimm ist, ist aber schlecht. Und weil es zur Schmeichelei gehört, andere zu etwas zu verleiten, was nachteilig und schlimm ist, ist auch die Schmeichelei schlecht.
Diese vier Gründe lassen uns mit Recht argwöhnisch aufs Schmeicheln schauen.
Ich habe bislang den Begriff des Schmeichelns sehr eng gefasst. Es gibt nun wenigstens zwei Verhaltensweisen, die dem Schmeicheln im engen Sinne, so wie ich es dargestellt habe, verwandt und ähnlich sind. Ich bin mir unsicher, ob es sich bei diesen Verhaltensweisen tatsächlich um Formen der Schmeichelei handelt.
Verhaltensweise 1: Wir sagen anderen etwas Nettes, nur um sie zu erfreuen. Wir wollen andere erfreuen. Alma sagt zu ihrer Freundin Jutta: „Das neue Kleid steht Dir wirklich gut.“ Alma sagt dies, damit Jutta sich freut. Alma hat keine weiteren Hintergedanken.
Verhaltensweise 2: Wir sagen anderen etwas Nettes, damit die anderen uns gerne haben und uns mögen. Wir wollen gemocht werden. Alma sagt zu ihrer Freundin Lisa: „Die neue Frisur macht Dich noch hübscher.“ Alma sagt dies, damit Lisa sie mag. Weitere Hintergedanken hat Alma nicht.
In beiden Fällen kann Alma die Wahrheit sagen oder die Unwahrheit sagen. Somit gäbe es sogar vier Fälle: (a 1) ehrliches Freudespenden und (a 2) unehrliches Freudespenden; (b 1) ehrliche Versuche, gemocht zu werden, und (b 2) unehrliche Versuche, gemocht zu werden.
Ob (a 1), (a 2), (b 1) oder (b 2) Fälle von Schmeicheln sind, bleibt strittig.
Nicht strittig hingegen ist, dass manche Menschen in übertriebener Weise anderen Menschen nette Dinge sagen. Manche wollen (a) ständig Freude um sich verbreiten. Manche wollen (b) von allen gemocht werden. Grundsätzlich ist der Wunsch, andere zu erfreuen oder von anderen gemocht zu werden, eher nicht zu beanstanden. Sobald aber wichtige Dinge auf dem Spiel stehen, sollten wir anderen Menschen doch auch Dinge zumuten, die sie nicht so gerne hören: Ein Ärztin sollte ihren Patienten sagen, dass er zu dick ist; eine Lehrerin sollte einem Schüler sagen, dass seine Leistung mangelhaft ist. Um des eigenen Vorteils willen zu schmeicheln, d. h. das Schmeicheln im engen Sinne, ist eher an sich übel. Wer hingegen (a) anderen Nettes sagt, um sie zu erfreuen, oder (b) anderen Nettes sagt, weil er von anderen gemocht werden will, tut nichts an sich Verwerfliches. Er tut aber auch nichts an sich Gutes.