Ich beginne mit drei Beispielen:
Das erste Beispiel ist das Zoobeispiel: Der kleine Lars geht mit seinen Eltern in den Zoo. Vor dem Alligatorengehege treffen Lars‘ Eltern Freunde. Die Eltern unterhalten sich. Sie achten nicht auf Lars. Lars hingegen klettert über die Brüstung und fällt ins Alligatorengehege. Wärterin Pauline sieht dies, schwingt sich über die Brüstung und rettet den kleinen Lars vor den Alligatoren.
Das zweite Beispiel ist das Feuerwehrbeispiel: Das Fachwerkhaus brennt. Drinnen schreit ein Baby. Feuerwehrfrau Johanna zieht ihr Atemschutzgerät an, geht ins brennende Haus und rettet das Baby.
Das dritte Beispiel ist das Nazibeispiel: Michael und Sven fahren nachts in der S-Bahn. Neonazis pöbeln ein älteres türkisches Ehepaar an. Alle schauen weg. Nur Michael und Sven gehen dazwischen.
Pauline, Johanna, Michael und Sven verhalten sich tapfer. Sie sind tapfer, weil vier Bedingungen erfüllt sind.
Bedingung 1 nenne ich die Gefahrbedingung: Sie alle, Pauline, Johanna, Michael und Sven, begeben sich in eine Gefahr. Pauline könnte gefressen werden; Johanna könnte ersticken oder verbrennen; Michael und Sven könnten zusammengeschlagen werden.
Bedingung 2 nenne ich die Lebensgefahrbedingung: In allen Beispielen besteht eine Gefahr für Leib und Leben.
Bedingung 3 nenne ich die Zielbedingung: Sie alle, Pauline, Johanna, Michael und Sven, nehmen eine Gefahr auf sich, weil es um etwas Wichtiges geht: Es geht um das Leben oder die körperliche Unversehrtheit anderer Menschen.
Bedingung 4 nenne ich die Freiwilligkeitsbedingung: Sie alle, Pauline, Johanna, Michael und Sven handeln freiwillig. Sie wissen, worauf sie sich einlassen, was ihnen droht. Sie werden nicht gezwungen, sich der Gefahr auszusetzen. Sie treffen alle eine schnelle Entscheidung, sich selbst für andere in Gefahr zu bringen.
Tapferkeit ließe sich vielleicht am besten in Form einer Geschichte erklären. In dieser Geschichte steht Pauline für die tapfere Person:
Pauline sieht: Ein hohes Gut ist in Gefahr, nämlich das Leben des kleinen Lars, denn die Alligatoren könnten den kleinen Lars fressen. Pauline hat nun zwei Möglichkeiten.
Möglichkeit 1: Pauline setzt ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit aufs Spiel. Dadurch, dass Pauline Leib und Leben in Gefahr bringt, könnte das hohe Gut, Lars‘ Leben, gerettet werden. Pauline ist bereit, ihre eigene Gesundheit oder ihr eigenes Leben für das Leben des kleinen Lars hinzugeben. Ihr Leben ist ihr nicht so wichtig wie das Leben des kleinen Lars. Dabei ist der mögliche Kampf mit den Alligatoren tatsächlich ein Weg, Lars zu retten.
Möglichkeit 2: Pauline setzt ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit nicht aufs Spiel. Dadurch, dass Pauline Leib und Leben nicht in Gefahr bringt, ist das hohe Gut, Lars‘ Leben, wahrscheinlich verloren. Pauline ist nicht bereit, ihre eigene Gesundheit oder ihr eigenes Leben für das Leben des kleinen Lars hinzugeben. Ihr Leben ist ihr wichtiger als das Leben des kleinen Lars. Dabei ist Pauline klar, dass der mögliche Kampf mit den Alligatoren tatsächlich ein Weg wäre, Lars zu retten.
Wer tapfer ist, wählt Möglichkeit 1.
Diese Erklärungsgeschichte ließe sich grob so zusammenfassen.
Wer bereit ist, für ein wichtiges Gut körperliche Verletzungen oder sogar das eigene Leben in Gefahr zu bringen, ist tapfer.
Manchmal sieht es allerdings so aus, als sei eine Person tapfer, aber in Wahrheit ist sie es nicht, weil eine der Bedingungen nicht erfüllt ist. In solchen Fällen spreche ich von Scheintapferkeit oder Pseudotapferkeit.
Pseudotapferkeit 1: Der kleine Lars geht mit seinen Eltern in den Zoo. Die Eltern passen nicht auf. Lars klettert über die Brüstung und fällt ins Alligatorengehe. Paulina schwingt sich über die Brüstung und holt Lars aus dem Gehege. Paulina ist die Heldin des Tages. Alle halten sie für tapfer. Alle denken: Paulina hat ihr eigenes Leben für den kleinen Lars aufs Spiel gesetzt. Was keiner, außer Paulina, weiß: Die Alligatoren waren vor einer Stunde gefüttert worden. Mit prallen Bäuchen dösen sie träge in der Sonne. Satt sind sie sanft wie die Lämmer. Paulina setzte sich nur scheinbar einer Gefahr aus. Lars‘ Eltern und all die anderen Zuschauer irren sich.
Bei Pseudotapferkeit ist Bedingung 1 (Gefahrbedingung) nicht erfüllt. Paulina begibt sich nicht wirklich in Gefahr. Damit ist auch Bedingung 2 (Lebensgefahrbedingung) nicht erfüllt.
Pseudotapferkeit 2 und 3 hingegen erfüllen Bedingung 3 (Zielbedingung) nicht. Es geht nicht um ein wirklich wichtiges, hohes Gut.
Pseudotapferkeit 2: Torben, Lennard, Kevin, Mizzi und der Rest der Bande schleichen sich nachts in den Zoo. Zum ersten Mal dabei ist Carsten. Carsten will in die Bande aufgenommen werden. Dazu muss er eine Mutprobe bestehen. Carsten weiß noch nicht, was ihn erwartet. Die anderen haben einen Plan. Vor dem Alligatorengehege tut Mizzi, als wollte sie telefonieren. Wie aus Versehen lässt sie ihr Handy ins Gehege fallen: „Mist! Mein neues Handy!“, flucht Mizzi. „Na, Carsten, dann zeig‘ mal, was Du drauf hast! Hol‘ Mizzis Handy da heraus! Dann gehörst du zu uns.“, sagen die anderen. Carsten springt ins Gehege. Tapfer ist er nicht. Es geht nicht um etwas wirklich Wichtiges.
Bei Pseudotapferkeit 2 ist Bedingung 3 (Zielbedingung) ist nicht erfüllt. Leib und Leben zu riskieren, um in eine Bande aufgenommen zu werden, ist lächerlich. Jemand der wie Carsten Leib und Leben aufs Spiel setzt für etwas, was es nicht wert ist, könnten wir auch als leichtsinnig bezeichnen.
Pseudotapferkeit 3: Wieder brennt das Fachwerkhaus in der Eifel; wieder hört man verzweifeltes Babygeschrei; wieder rückt die freiwillig Feuerwehr an. Johann ist Bürgermeister des Ortes. Zugleich ist Johann Hauptmann der freiwilligen Feuerwehr. Da steht er nun! Er weiß: Ins Haus zu gehen könnte ihn das Leben kosten. Er selbst hat Frau und Kinder. Er weiß aber auch: „Gehe ich jetzt nicht ins Haus, das Kind zu retten, kann ich mich im Dorf nicht mehr blicken lassen. Die Leute im Dorf werden mich als Feigling verachten. Keiner wird mich mehr grüßen. In der Kirche werden die Leute aufstehen und die Bank verlassen, in die ich mich setze. Diese Schande ertrage ich nicht!“ Johann geht ins brennende Haus.
Bei Pseudotapferkeit 3 ist Bedingung 3 (Zielbedingung) ebenfalls nicht erfüllt: Der tapferen Person muss es um die wichtige Sache selbst gehen. Johann geht es aber nicht in erster Linie darum, das Kind zu retten. Johann geht es darum, nicht zum Schandfleck des Dorfs zu werden.
Pseudotapferkeit 3 zeigt, dass Bedingung 3 (Zielbedingung) noch ungenau ist. Es reicht nicht, ein wichtiges Ziel zu haben, um tapfer zu sein. Dieses wichtige Ziel muss auch das sein, um was es der tapferen Person recht eigentlich geht. Johann hat zwar das Ziel, das Kind zu retten. Aber recht eigentlich geht es ihm um seinen guten Namen.
Pseudotapferkeit 4 und 5 und 6 erfüllen Bedingung 4 (Freiwilligkeitsbedingung) nicht. Hier wird nicht im vollen Sinne des Wortes freiwillig gehandelt.
Pseudotapferkeit 4: Wieder fällt der kleine Lars ins Alligatorengehege. Wärter Paul denkt: Die Alligatoren sind satt und träge. Die sind sanft wie die Lämmer. So schwingt er sich über die Brüstung und holt den kleinen Lars. Was Wärter Paul nicht weiß: Die Fütterung fiel heute aus, weil kein Fleisch geliefert worden ist. Paul wusste gar nicht, in welche Gefahr er sich begibt, denn anders als Paul dachte, waren die Alligatoren nicht satt und träge.
Bei Pseudotapferkeit 4 ist Bedingung 4 (Freiwilligkeitsbedingung) nicht erfüllt. Paul wusste nicht, worauf er sich einlässt. Er handelt unwissend und somit nicht freiwillig.
Pseudotapferkeit 5; Bedingung 4 fordert jedoch zusätzlich: Es darf kein Zwang vorliegen. Hier ist ein Beispiel für Pseudotapferkeit aus Zwang.
Aus dem brennenden Fachwerkhaus im kleinen Eifeldorf hört man ein Kind schreien. Die freiwillige Feuerwehr rückt an. Die Feuerwehrleute sind nicht gut ausgestattet. Auch die Männer des Dorfes haben sich versammelt. Sie tragen Knüppel, Mistgabeln und Äxte. Die Männer des Dorfes geben den wenigen Feuerwehrleuten zu verstehen: „Los, rein ins Haus! Rettet das Baby! Sonst schlagen wir euch tot.“ Johanna rettet das Baby aus Angst, erschlagen zu werden
Bei Pseudotapferkeit 5 ist ebenfalls Bedingung 4 (Freiwilligkeitsbedingung) nicht erfüllt. Johanna handelt nicht freiwillig. Sie wurde gezwungen. Sie handelt unter Zwang und somit nicht freiwillig.
Pseudotapferkeit 6: Die kleine, zarte Miriam stottert. Zudem ist Miriam jähzornig. Als der Rüpel Arnold sie hänselt, weil sie stottert, sieht sie rot. Sie rastet völlig aus und verprügelt den verblüfften Arnold.
Auch bei Pseudotapferkeit 6 ist Bedingung 4 (Freiwilligkeitsbedingung) nicht erfüllt. Miriam wird von ihrer Wut übermannt. Sie handelt nicht im vollen Sinne freiwillig.
Nachdem wir die sechs Formen der Pseudotapferkeit kennengelernt haben, lässt sich noch etwas besser, feiner und genauer erklären, was Tapferkeit ist:
Wer bereit ist, für ein wirklich wichtiges Gut oder Ziel körperliche Verletzungen oder sogar das eigene Leben in Gefahr zu bringen, ist tapfer. Dabei muss es der tapferen Person recht eigentlich um das wichtige Gut oder Ziel gehen. Die tapfere Person muss deutlich wissen, welche Gefahr sie eingeht. Und diese Gefahr muss auch tatsächlich bestehen. Die tapfere Person darf nicht unter Zwang handeln. Die tapfere Person darf auch nicht nur aus Zorn oder Wut handeln, sondern muss eine bewusste Entscheidung treffen. Dabei muss es die Möglichkeit geben, sich nicht der Gefahr auszusetzen und so das wichtige Ziel nicht zu erreichen.