Thomas Nisters

Wörterbuch
philo­sophischer Alltags­begriffe

Traurigkeit

Begriffserklärung

Ich beginne mit einem Beispiel:

Als Lara am Morgen zur Schule ging, war Schnuffi noch ganz munter gewesen. Gut, die Nasenspitze war etwas trocken gewesen und die Augen ein bisschen glasig. Nun lag Laras Meerschweinchen reglos auf dem Käfigboden. Lara ging in den Keller, suchte einen alten Schuhkarton. Zurück auf ihrem Zimmer schlug sie den Karton mit schönem Seidenpapier aus. Außen bemalte sie den Karton mit Buntstiften. Schließlich legte sie Schnuffi behutsam in seinen Sarg. Sie schloss den Karton, band ihn mit einer Kordel zu. Es wurde schon dunkel, als Lara ganz hinten im Garten bei der alten Eibe den Meerschweinchensarg in die Erde gab. Es regnete. Sie fror und die Tropfen liefen über Laras Gesicht. Sie war so traurig.

Aus diesem Beispiel ergeben sich acht Eigenschaften der Traurigkeit.

Eigenschaft 1:  Wer traurig ist, dem ist etwas wichtig, wertvoll und im Leben bedeutsam. Lara war ihr Meerschweinchen wichtig. Sie hat es versorgt, mit ihm gespielt, es gestreichelt und sogar mit ihm gesprochen. Wem nichts wichtig, wertvoll oder bedeutsam ist, wem alles gleichgültig ist, der kann auch nicht traurig sein. Etwas schätzen zu können, in der Lage zu sein, etwas für wertvoll zu halten, ist eine notwendige Bedingung dafür, traurig sein zu können. Ich weiche damit zwar etwas vom alltäglichen Sprachgebrauch ab, aber ich möchte die Fähigkeit, etwas für wertvoll zu halten, etwas wert zu schätzen, etwas für bedeutsam zu halten, als Fähigkeit zu lieben, als Liebesfähigkeit bezeichnen. In diesem Sinne können nur solche Wesen traurig sein, die lieben können. Wir lieben nur das, was wir für gut halten. Deshalb kann nur traurig sein, wer etwas für gut hält.

Eigenschaft 2: Wer traurig ist, ist von dem, was er liebt, getrennt. Lara muss sich von Schnuffi trennen. Schnuffi ist tot. Sein Käfig ist leer. Wenn Schnuffi weiterlebte, dann wäre Lara nicht traurig.

Dabei gibt es zwei Arten, von dem, was wir lieben, getrennt zu sein.

Art (a): Wir haben etwas verloren. Die Trennung ist das Ergebnis eines Verlustes. Etwas verlieren heißt: Zunächst haben wir etwas, dann, später, haben wir es nicht mehr. Dies ist bei Lara und Schnuffi der Fall. Manchmal ist es sogar ein Verlust im ganz wörtlichen Sinn, der uns traurig macht. Ralf hat ein wunderschönes Taschenmesser von seinem Großvater geerbt. Der Griff ist aus Hirschhorn, die Klinge ist mit feinen Gravuren geschmückt. Nach einer Wanderung merkt Ralf, dass er das Messer verloren hat. Ralf ist sehr traurig. Diese Art der Trauer nenne ich Verlusttrauer.

Art (b): Wir haben uns etwas immer gewünscht oder gar ersehnt, es aber nie bekommen. Lisa, Laras Freundin, hat sich immer ein Haustier gewünscht, aber nie eines bekommen, weil ihre Mutter allergisch ist. Hier ist es nicht so, dass Lisa zunächst etwas hatte, und es dann verloren hat. Hier hat sich nichts geändert. Lisa hatte nie ein Meerschweinchen. Diese zweite Art der Trauer nenne ich Sehnsuchtstrauer. Die Sehnsuchtstrauer findet sich oft bei älteren Menschen, die erkennen müssen, dass sich manche ihre Sehnsüchte nie erfüllt haben und nun auch nicht mehr erfüllen werden.

Mit Blick auf Eigenschaft 2 gibt es eine weitere Unterscheidung:

(i) Manchmal ist die Trennung von dem, was ich liebe, endgültig.

(ii) Manchmal ist die Trennung von dem, was ich liebe, nicht unbedingt endgültig.

Schnuffis Tod ist (i) endgültig. Schnuffi wird nicht wieder lebendig.  Lara könnte aber auch traurig sein, weil Schnuffi schwer krank ist. Das muss aber (ii) nicht endgültig sein. Schnuffi könnte wieder genesen. Ein sehr übliches Beispiel für eine Trauer, bei der das Gut meist nur vorübergehend verloren ist, ist das Heimweh.

Indem ich die Trennungsarten (a) / (b)  und Unterscheidung (i) / (ii) verbinde, ergeben sich vier Fälle.

Fall 1: Lara ist traurig, weil sie etwas Gutes (i) endgültig (a) verloren hat.

Fall 2: Lara ist traurig, weil sie etwas Gutes (a) verloren hat, aber hoffen darf, (ii) es wieder zu erlangen.

Fall 3; Lara ist traurig, weil sie etwas Gutes (b) nie hatte und auch (i) nie haben wird.

Fall 4: Lara ist traurig, weil sie etwas Gutes noch (b) nie hatte; aber es ist nicht ausgeschlossen, dass sie es (ii) irgendwann bekommen wird.

Eigenschaft 3: Lara kann nur traurig sein, nachdem sie von Schnuffis Tod weiß. Auf dem Heimweg von der Schule ist sie noch guter Dinge. Sie wird erst traurig, als sie Schnuffi tot im Käfig sieht.

Daraus ergibt sich, dass nur Wesen, die etwas bewusst wahrnehmen können, traurig sein können.

Eigenschaft 4: Die Trennung, der Verlust, aus der die Trauer erwächst, sind gegen meinen Willen. Lara will nicht, dass Schnuffi stirbt.

Daraus ergibt sich, dass nur Wesen, die nicht allmächtig sind, traurig sein können; denn nichts geschieht ohne oder gegen den Willen eines allmächtigen Wesens.

Eigenschaft 5: Die Eigenschaft 5 ergibt sich im Grunde aus Eigenschaft 1 (Liebe zu einem Gut), Eigenschaft 2 (Getrenntsein) und Eigenschaft 4 (Widerwille): Das, was ich liebe, gegen meinen Willen nicht zu haben, ist schmerzhaft. Traurigkeit ist somit ein schmerzhaftes Gefühl. Trauer ist stets mit Schmerz verbunden. Die Trauer unterscheidet sich somit von allen Gefühlen, die mit Freude verbunden sind.

Eigenschaft 6: Traurigkeit im eigentlichen Sinne ist ein Selbstbetroffenheitsgefühl. Es gibt Gefühle, die sich einstellen, weil anderen etwas Gutes oder Schlechtes passiert. Solche Fremdbetroffenheitsgefühle wären etwas Neid oder Mitleid. Bei der Trauer hingegen passiert mir selbst etwas Schlimmes.

Eigenschaft  7: Trauer hat verschiedene Wirkungen: Zunächst wirkt das Gefühl auf den Körper. So schlägt die Trauer auf das Herz. Es ist sogar möglich, den Herztod zu erleiden, weil ich traurig bin. Sodann führt die Trauer dazu, dass wir weinen, den Kopf gesenkt halten. Schließlich führt die Trauer dazu, dass wir uns zurückziehen, zu nichts Lust haben, ohne Antrieb sind.

Eigenschaft 8: Die Trauer steht in enger Verbindung zu anderen Gefühlen. Um die Vielfalt dieser Verbindungen zwischen der Trauer und anderen Gefühlen anschaulich zu machen, führe ich ein weiteres Beispiel an:

Gaby ist überglücklich. Endlich ist sie mit ihrem Schwarm, Jupp dem Bademeister, zusammen. Sie schwebt auf Wolke sieben. Seit Wochen ist sie jeden Tag, jede freie Minute ins Freibad gegangen, um Jupp zu sehen – und natürlich, um von Jupp gesehen zu werden. Jetzt ist sie am Ziel ihrer Träume!

Doch plötzlich, nach drei Wochen, das: Sie hatte früher als sonst frei, eilt ins Freibad und sieht, wie Jupp und Jacqueline knutschen. Sofort stellt sie die beiden zur Rede. Jacqueline aber grinst nur frech. Jupp sagt: „Zisch ab! Du gehst mir ohnehin nur noch auf den Zeiger!“

Gaby fährt heim. Zunächst zerschlägt sie vor lauter Wut alles, was sie an Jupp erinnert. Dann, vor dem Scherbenhaufen ihres Glücks, beginnt sie bitterlich zu weinen! Die Tränenflut mag und mag nicht versiegen, so traurig ist die arme Gaby!

An diesem Beispiel lässt sich schön zeigen, mit welchen Gefühlen Traurigkeit verbunden sein kann. Dabei lassen sich vier Gefühlsgruppen unterscheiden:

Gefühlsgruppe 1: Das Gefühl ist eine notwendige Bedingung dafür, dass Traurigkeit entstehen kann. Die Gruppe umfasst nur ein Gefühl: Liebe. Ohne Liebe kann Trauer nicht entstehen. Gaby ist deshalb traurig, Jupp verloren zu haben, weil Gaby Jupp doch so sehr liebt.

Gefühlsgruppe 2: Das Gefühl bezieht sich auf die Ursache dafür, dass ich von dem Gut getrennt bin, das Gute verloren habe. So ist Gaby wütend auf Jacqueline, weil Jacqueline ihr Jupp weggenommen hat. Jacqueline nämlich ist die Ursache dafür, dass Gaby Jupp verliert. Gaby kann sich aber auch selbst schuldig fühlen. Wieso hat sie auch immer so auf Jupp herumgehackt, wenn er einmal unpünktlich war oder zuviel Bier getrunken hat?! Gaby selbst ist die Ursache dafür, dass sie Jupp verliert. Gaby kann auch empört sein, weil das Schicksal so ungerecht ist: Wieso gerät sie nur immer an solche Männer wie Jupp? Das Schicksal ist Ursache dafür, dass Gaby Jupp verliert.

Gefühlsgruppe 3: Das Gefühl bezieht sich auf die Folgen des Gutverlustes. Gaby könnte Angst vor der Einsamkeit haben; sie hat Angst davor, nun alleine zu sein. Bisweilen verbindet sich die Trauer aber auch mit einer Erleichterung. Vielleicht war die Beziehung zu Jupp für Gaby kein Bett aus Rosen: Immer wieder kam er zu spät oder vergaß Verabredungen. Oft trank Jupp mehr als er vertrug und beschimpfte Gaby. Und dass Jupp oft mit anderen Frauen flirtete, hat Gaby zur Weißglut gebracht. Außerdem hat sie in letzter Zeit auch gemerkt, dass sie ein wenig in Jupps Kollegen Torben verliebt war. Kurzum: Ein wenig erleichtert ist Gaby neben all der Trauer.

Gefühlsgruppe 4: Diese Gefühlsgruppe entsteht, weil wir uns in unserem Elend mit anderen vergleichen. Dieser Vergleich führt leider oft zu dem Ergebnis: Anderen geht es besser als uns. Wenn es anderen besser als uns geht, dann gesellt sich der Neid zur Trauer: Gaby könnte neidisch auf Ramona sein, weil Ramona schon lange mit dem schönen Egon eine Traumbeziehung führt.

Trauer ist ein Schmerz darüber, von einem Gut getrennt zu sein. Die Güter, von denen wir getrennt sein können, die wir verlieren können, sind vielfältig:

  • Manchmal trauern wir um körperliche Güter, etwa dann, wenn wir eine Körperglied oder den Verlust eine körperliche Fähigkeit, wie zum Beispiel das Hörvermögen, verlieren.
  • Manchmal trauern wir um äußere Güter, wie etwa beim Verlust eines geliebten, wertvollen Schmuckstücks.
  • Manchmal trauern wir um den Verlust einer Beziehung, etwa bei einer Trennung.
  • Manchmal trauern wir um etwas, weil das, was wir verloren haben, uns viel Spaß bereitet hat. So erfüllt uns am Ende eines schönen Urlaubs bisweilen tiefe Traurigkeit.
  • Manchmal bezieht sich die Trauer auf etwas, was nützlich war, etwa der Verlust eines Geldbetrags.
  • Ganz besonders aber trauern wir um den Tod einer geliebten Person.

Die Trauer oder Traurigkeit überkommt uns einfach. Wir können nichts daran machen. Deshalb sind wir auch nicht für unsere Trauer verantwortlich und deshalb ist die Trauer weder gut noch böse. Gleichwohl ist die Trauer manchmal nicht in Ordnung.

Es ist insbesondere nicht in Ordnung, über etwas traurig zu sein, was in Wahrheit gut ist, so wie es auch nicht in Ordnung ist, über etwas froh zu sein, was in Wahrheit schlecht ist. Nehmen wir an, Jupp ist am Tag nach der Trennung von Gaby in einen Unfall verwickelt. Wie durch ein Wunder bleibt Jupp unverletzt. Gaby ist traurig darüber, dass er sich nicht schwer verletzt hat.

Die Trauer verändert ihre Form, je nach dem, worauf sich die Trauer bezieht: Wer traurig darüber ist, nicht zuhause zu sein, leidet unter Heimweh. Wer traurig darüber ist, von einer geliebten Person getrennt zu sein, leidet unter Liebeskummer oder Sehnsucht. Wer traurig darüber ist, Schuld auf sich geladen zu haben, empfindet Reue.

Fragen

  1. Können Tiere oder Pflanzen traurig sein?

  2. Manchmal befällt uns eine grundlose Traurigkeit. Wie ist das zu erklären?

  3. Musik macht uns manchmal traurig. Wieso?

  4. Es gibt wenigstens drei Arten des Verlustes, die uns traurig machen können.

    Verlustart 1 liegt vor, sobald das, was wir besessen haben und nun nicht mehr besitzen, jemand anderes besitzt.

    Verlustart 2 liegt vor, sobald  das, was wir besessen haben und nun nicht mehr besitzen, von niemandem besessen wird, also herrenlos ist.

    Verlustart 3 liegt vor, sobald das, was wir vorher besessen haben,  nun zerstört ist.

    Suche Beispiele zu diesen Verlustarten! Sind wir je nach Verlustart unterschiedlich traurig?

  5. Wie verhalten sich Freude und Trauer zueinander?

    Was das Verhältnis zwischen Freude und Trauer betrifft, unterscheidet Thomas von Aquin (STH I/II, 35, 4, c.) drei Fälle:

    Fall 1: Wenn sich Freude und Trauer auf dasselbe Ereignis beziehen, dann stehen Freude und Trauer im Gegensatz zueinander. Deshalb ist es nicht möglich, dass sich ein und dieselbe Person zu einer bestimmten Zeit über etwas freut und darüber traurig ist. Lara kann Schnuffis Tod nicht betrauern und sich gleichzeitig über Schnuffis Tod freuen.

    Fall 2: Wenn sich Freude und Trauer auf verschiedene Ereignisse beziehen, dann sind zwei Unterfälle zu unterscheiden:

    Unterfall 2.1: Die beiden Ereignisse stehen nicht miteinander in Beziehung. In diesem Unterfall stehen Freude und Trauer nicht in Gegensatz zueinander. Freude und Trauer können in diesem Unterfall gleichzeitig auftreten. Nehmen wir an, am Abend nach der Trennung von Jupp gewinnt Gaby 60.755 Euro im Lotto. Sie kann sich über den plötzlichen Reichtum freuen und gleichzeitig traurig sein, weil sie Jupp verloren hat.

    Unterfall 2.2 Die beiden Ereignisse stehen im Gegensatz zueinander. Wenn Freude und Trauer sich auf zwei Ereignisse beziehen, die im Gegensatz zueinander stehen, dann ähneln sich Freude und Trauer an: Gaby ist traurig, weil sie von Jupp getrennt ist. Daraus ergibt sich: Gaby wäre froh, mit Jupp weiter zusammen zu sein.

    Hältst Du diese Fallunterscheidungen für tragfähig?

  6. Menschen sind traurig, weil sie etwas, was sie gerne haben, nicht haben oder nicht mehr haben. Wir sind traurig, weil unsere Sehnsüchte und Wünsche sich nicht erfüllen. Nun haben aber alle Menschen unerfüllte Sehnsüchte. Folglich müssten alle Menschen immer traurig sein. Stimmt das?

  7. Keine Rosen ohne Dornen! Auch die guten Dinge haben ihre Schattenseiten. Deshalb müsste doch jede Freude mit etwas Traurigkeit verbunden sein. Stimmt das?

  8. Die meisten Gefühle haben einen Sinn: Wut hilft uns, uns zu verteidigen. Ärger hilft uns, Grenzen zu setzen. Mitleid hilft uns, wohltätig zu sein. Ehrgeiz spornt uns an. Aber welchen Sinn hat die Trauer?

  9. Im Artikel wird als Eigenschaft 4 der Trauer angeführt, dass wir gegen unseren Willen von dem Gut, um das wir trauern, getrennt sein müssen. Nehmen wir nun an, Gaby merkt, dass Jupp nicht der richtige Partner für sie ist. Sie beendet die Beziehung. Manchmal, an einsamen Abenden, überkommt sie aber trotzdem die Sehnsucht nach Jupp und Gaby wird traurig. Hier ist Gaby doch über etwas traurig, wozu sie sich selbst entschieden hat. Die Trennung von Jupp ist doch nicht gegen ihren Willen. Woher also kommt die Traurigkeit?

  10. Trauer wird oft von anderen Gefühlen begleitet (Eigenschaft 8) wie etwa von Neid oder Wut. Manche vermuten, dass diese Begleitgefühle manchmal dazu da sind, die Trauer zu überdecken. Traurig zu sein ist so schwer zu ertragen, dass wir lieber neidisch oder wütend sind, um unsere Trauer nicht zu spüren. Was hältst du von dieser Vermutung?

  11. Traurig zu sein ist eine Sünde. Denn alles, was geschieht, ist Gottes Wille. Wer traurig ist, lehnt sich innerlich gegen das, was geschieht auf. Also lehnt sich, wer traurig ist, gegen Gottes Wille auf. Hältst Du diese Überlegung für schlüssig?

  12. Traurigkeit und Wehmut ähneln einander in gewisser Hinsicht. Inwiefern ähneln sich Traurigkeit und Wehmut? Welche Unterschiede gibt es zwischen Traurigkeit und Wehmut?

Quellen

In den Artikel über Traurigkeit sind Gedanken eingeflossen aus diesen Werken:

Thomas von Aquin, STH I/II, 35 – 39;

Demmerling / Landweer, Philosophie der Gefühle,  259 – 285.

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