Traurig zu sein, ist für die traurige Person selbst schlimm und bisweilen fast unerträglich. Und es ist gleichfalls schlimm, mit traurigen Menschen zusammen zu sein. Es ist quälend, zu sehen, wie andere traurig sind. Die traurige Person selbst wird mithin versuchen, ihren Trauerschmerz los zu werden oder wenigstens zu lindern. Und auch die Person, die selbst gar nicht traurig ist, aber merkt, dass eine andere Person trauert, wird versuchen, der Person, die traurig ist, in deren Trauer zu helfen.
Ich nenne nun jeden Versuch, eigene oder fremde Trauer zu beseitigen oder wenigstens zu lindern, einen Versuch, zu trösten. Ich fasse den Begriff des Trostes mithin sehr weit. Sicher werden viele meine Begriffsbestimmung der Trauer für viel zu weit halten. Wer meine Bestimmung für viel zu weit hält und ablehnt, den lade ich dennoch ein, mit mir Unterarten dessen, was ich unter Trost verstehe, zu betrachten. Vielleicht führe ich eine Unterart oder mehrere Unterarten an, die dann trotz anfänglicher Ablehnung Zustimmung findet.
Wie also versuchen wir, die Trauer zu beseitigen oder zu lindern? Welche Möglichkeiten, zu trösten, gibt es?
Zunächst: Trost bezieht sich auf Trauer. Deshalb wiederhole ich, bevor ich aufs Trösten zu sprechen komme, ein Beispiel aus dem Artikel zu Traurigkeit:
Gaby ist überglücklich. Endlich ist sie mit ihrem Schwarm, Jupp dem Bademeister, zusammen. Sie schwebt auf Wolke sieben. Seit Wochen ist sie jeden Tag jede freie Minute ins Freibad gegangen, um Jupp zu sehen – und natürlich, um von Jupp gesehen zu werden. Jetzt ist sie am Ziel ihrer Träume!
Doch plötzlich, nach drei Wochen, das: Sie hatte früher als sonst frei, eilt ins Freibad und sieht, wie Jupp und Jacqueline knutschen. Sofort stellt sie die beiden zur Rede. Jacqueline aber grinst nur frech. Jupp sagt: „Zisch ab! Du gehst mir ohnehin nur noch auf den Zeiger!“
Gaby fährt heim. Zunächst zerschlägt sie vor lauter Wut alles, was sie an Jupp erinnert. Dann, vor dem Scherbenhaufen ihres Glücks, beginnt sie bitterlich zu weinen! Die Tränenflut mag und mag nicht versiegen, so traurig ist die arme Gaby!
Zur Trauer, auch dies möchte ich in Erinnerung rufen, gehören offenbar vier Punkte:
Punkt 1 ist die Trennung: Die traurige Person ist von einer Person oder von einer Sache, die ihr wichtig ist, die sie liebt, getrennt. Gaby hat Jupp verloren.
Punkt 2 ist das Wissen: Die traurige Person weiß und erkennt, dass sie von der Person oder der Sache, die ihr wichtig ist, die sie liebt, getrennt ist. Gaby weiß: Jupp hat mit ihr, Gaby, Schluss gemacht.
Punkt 3 ist das Bewusstsein: Die traurige Person denkt daran, dass sie von der Person oder der Sache, die ihr wichtig ist, die sie liebt, getrennt ist. Gaby ist immer dann besonders traurig, wenn sie gerade daran denkt, dass sie Jupp verloren hat.
Punkt 4 ist der Schmerz: Die traurige Person empfindet Schmerz darüber, die geliebte Person oder die bedeutsame Sache verloren zu haben. Gaby zerreißt es das Herz, nicht mehr mit Jupp zusammen zu sein.
Gaby selbst oder Gabys beste Freundin Rosi können nun versuchen, Gabys Trauer zu lindern oder ganz zu beseitigen. Gaby oder Rosi können dies tun, indem sie bei Punkt 1 (Trennung), Punkt 2 (Wissen), Punkt (3) (Bewusstsein) oder Punkt 4 (Schmerz) ansetzen.
Es gäbe somit vier Stufen des Trostes.
Troststufe 1 versucht, die Welt in den alten Zustand zurückzuversetzen: Gaby oder Rosi können versuchen, die Trennung rückgängig zu machen oder die Trennung zu überwinden. Gaby könnte versuchen, Jupp zurückzugewinnen. Oder Gaby findet Ersatz für Jupp. So könnte Rosi Gaby mit dem Zuhälter Torben zusammenbringen, mit dem Gaby genauso glücklich ist wie mit Jupp.
Troststufe 2 versucht, die Tatsachen zu verleugnen: Gaby verleugnet, dass sie Jupp verloren hat. Sie will die Tatsache der Trennung einfach nicht wahrhaben, bestreitet, dass Jupp weg ist. Jupp hat mit Jacqueline geknutscht? Das war nur eine Sinnestäuschung. Rosi zeigt ihr verfängliche Fotos, auf denen Jupp und Jacqueline eng umschlungen zu sehen sind. Das sind Fälschungen. Gaby könnte sich aber auch weigern, die Dauerhaftigkeit und Endgültigkeit der Trennung anzuerkennen. Gaby denkt: „Jupp kommt schon wieder!“ Oder Gaby könnte verleugnen und vor sich selbst bestreiten, dass sie Jupp liebt.
Troststufe 3 versucht, die Trennung aus dem Bewusstsein zu drängen: Wenn Gaby die Trennung nicht rückgängig machen kann und es ihr auch nicht gelingt, die Tatsachen zu leugnen, dann könnte Gaby sich trösten, indem ihre Aufmerksamkeit von der Trennung abwendet. Sie versucht, der Trennung von Jupp in ihrem Bewusstsein keinen Raum zu geben. Gaby könnte ihr Bewusstsein insgesamt eintrüben, indem sie schon zum Frühstück die erste Flasche Spumante trinkt. Gaby könnte ihr Bewusstsein ablenken, indem sie ganz viel Urlaub macht, indem sie von einer Party zur nächsten geht. Gaby könnte auch ihr Bewusstsein so lenken, dass andere Gefühle die Trauer überdecken: Gaby könnte an die blöde Schnepfe Jacqueline denken, so dass Gaby zwar vor Wut platzt, aber ihre Trauer nicht mehr spürt. Gaby könnte an die Bilderbuchbeziehung denken, die Lotta mit ihrem Vorzeige-Kalle führt, so dass Gaby zwar grün wird vor Neid, aber ihre Trauer nicht mehr spürt.
Troststufe 4 versucht, den Schmerz zu betäuben: Schmerzen können wir unmittelbar betäuben. Dazu nehmen wir Betäubungsmittel: Alkohol, Marihuana, Schmerztabletten oder andere Drogen. Wir können Schmerzen aber auch mittelbar lindern. Dazu nehmen wir schöne, freudige, lustvoll Dinge. Die wirken wie süßer Zucker, der einen bitteren Geschmack im Mund übertüncht. Und das geht auch beim Trauerschmerz. Wer traurig ist, lindert den Schmerz durch freudvolle, schöne Dinge und Erlebnisse: leckeres Essen, Sex, schöne Musik.
All diesen vier Troststufen oder Trostversuchen ist gemeinsam: Mit ihnen soll die Trauer bekämpft werden. Die Trauer soll weg! Die Trauer soll nicht da sein. Die Trauer wird nicht angenommen.
Ob es möglich ist, die Trauer auf diese Weisen erfolgreich zu bekämpfen, mag jeder für sich selbst ausprobieren.
Es gibt allerdings grundsätzlich andere Formen, mit eigener und fremder Trauer umzugehen. Diese anderen Formen, der Trauer zu begegnen, haben nicht das Ziel, die Trauer zu bekämpfen und zu beseitigen. Sie stehen der Trauer nicht feindselig gegenüber. Sie stehen der Trauer freundlich gegenüber. Diese Formen lassen die Trauer, so wie sie ist, zu.
So könnte Rosi Gaby einfach umarmen; Rosi könnte Gaby zuhören und sie im Arm halten, während Gaby bittere Tränen um Jupp weint. Gaby könnte ihren Tränen dann freien Lauf lassen und ohne sich zu schämen schluchzend ihrem Elend hingeben.
Vielleicht löst sich Gabys Trauer, gerade weil weder Gaby noch Rosi versuchen, die Trauer zu lösen. Vielleicht ist es mit der Linderung der Trauer so wie mit dem Einschlafen: Wenn man es unbedingt will, dann gelingt es nicht.