Der Begriff „Strenge“ ist sehr schwammig. Den Begriff „Strenge“ eindeutig zu fassen, scheint kaum möglich. So benutzen wir das Wort „streng“ in Zusammenhängen, die doch wohl nichts miteinander zu tun haben: Wir reden von strengen Eltern, einer strengen Richterin, strengen Lehrern. Gesetze, Vorgaben, Richtlinien, Gebote nennen wir streng. Mathematikerinnen sprechen von einem strengen Beweis. Auf amtlichen Schreiben steht bisweilen: STRENG GEHEIM! Manchmal sagen wir, jemand gucke streng. Und schließlich sagen wir sogar, der Käse rieche oder schmecke streng.
Trotz dieser Schwammigkeit möchte ich versuchen, eine Kernbedeutung von „streng“ herauszuarbeiten.
Ich beginne mit einem Beispiel, an dem sich die Kernbedeutung von streng vielleicht entwickeln lässt:
Dienstag, 1. Stunde: Englischunterricht bei Frau Dr. Regula Stern. Es ist 7:55 Uhr. Alle strömen zu ihren Klassenräumen. Vor den Klassenräumen stauen sich die Schüler und Schülerinnen, weil die Türen noch verschlossen sind. Nur Frau Dr. Stern ist bereits da, steht an der geöffneten Tür und lässt ihre Klasse eintreten. Jede Schülerin, jeden Schüler begrüßt sie persönlich. Den Klassenraum hat sie schon gelüftet.
Um Punkt 8:00 Uhr schließt Dr. Stern die Klassentür. Wer nun kommt, darf bis zur nächsten Stunde schriftlich erklären, wie es zu der Verspätung gekommen ist. Wenn die Erklärung fadenscheinig ist, dann sendet Frau Dr. Stern eine E-Mail an die Erziehungsberechtigten und bittet um ein Gespräch.
Zu Beginn des Unterrichts überprüft Frau Dr. Stern, ob alle Schülerinnen und Schüler die Hausarbeiten gemacht haben. Wer keine Hausarbeiten gemacht hat, bekommt ein Ungenügend für die sonstige Mitarbeit eingetragen und die Erziehungsberechtigten werden benachrichtigt. Wer glaubt, einen guten Grund dafür zu haben, keine Hausarbeiten zu haben, kann Frau Dr. Stern am selben Tag eine E-Mail senden.
Nun gibt es eine Gruppenarbeit. Frau Dr. Stern hat vorher festgelegt, wer mit wem zusammenarbeitet. Ein guter, ein mittlerer und ein schlechter Schüler besprechen miteinander ihre Hausarbeiten. Danach lost Frau Dr. Stern aus, wer seine Hausarbeiten vorträgt. Wer glaubt, eine besonders gute Hausarbeit zu haben, kann sie Frau Dr. Stern als E-Mail-Anhang zusenden.
Bei Frau Dr. Stern stört niemand. Sie selbst hört genau zu, solange ein Schüler oder eine Schülerin spricht. Solange Frau Dr. Stern redet, hören die Schülerinnen und Schüler genau zu.
Dieser Unterricht ist äußerst anstrengend. Deshalb legt Frau Dr. Stern kleine Zwischenpausen ein. Da können die Schülerinnen und Schüler einen Schluck trinken, etwas schwatzen.
Insgesamt ist es schwierig, bei Frau Dr. Stern sehr gute Noten zu bekommen, weil ihre Forderungen so hoch sind. Dabei hat sie keine Lieblingsschüler. Frau Dr. Stern benachteiligt niemanden und sie bevorzugt niemanden.
Und Frau Dr. Stern hat noch eine weitere, erwähnenswerte Eigenart: Während fast alle Klassen eine Woche vor den großen Sommerferien nur noch Filme schauen oder Ausflüge machen, läuft der Unterricht bei Frau Dr. Stern einfach weiter. Da hilft kein Murren und kein Schimpfen. Ein Schüler, es war der schöne Gunnar, arbeitete einmal in der letzten Woche nicht mit. Die Noten stünden doch schon fest! Die Rechnung bekam Gunnar dann im nächsten Schuljahr. Frau Dr. Stern übertrug Gunnars mangelhafte Leistungen einfach ins neue Schuljahr. Dumm gelaufen.
Die Schülerinnen und Schüler bezeichnen Frau Dr. Stern als streng. Damit haben sie recht. In der Tat lässt sich aus dem Beispiel entwickeln, was es im Kern bedeutet, streng zu sein.
Zunächst sind vier Punkte zu unterscheiden:
Es gibt (I) eine Person, die streng ist. In meinem Beispiel ist Frau Dr. Regula Stern die strenge Person.
Es gibt (II) eine Person oder mehrere Personen, denen gegenüber die strenge Person sich streng verhält. Frau Dr. Stern verhält sich den Schülern und Schülerinnen gegenüber streng.
Es gibt (III) ein bestimmtes Verhalten der strengen Person.
Es gibt (IV) einen Lebensbereich, auf den sich das strenge Verhalten der strengen Person bezieht. Frau Dr. Stern ist streng im Rahmen ihres Unterrichts.
Ich beginne mit einem genaueren Blick auf (I) die strenge Person. Ich nenne die strenge Person einfach Frau Dr. Stern.
Frau Dr. Stern hat Macht. Als Lehrerin darf sie ihren Schülern und Schülerinnen Weisungen erteilen. Sie beurteilt Leistungen, sie vergibt Noten. Diese Macht ist Frau Dr. Stern von Rechts wegen verliehen. Frau Dr. Stern steht entsprechend über ihren Schülerinnen oder Schülern. Wer streng ist, hat eine gerechtfertigte Machtstellung inne und steht über denen, die dieser Macht unterworfen sind. So sind Lehrerinnen, Richterinnen streng und nicht etwa Schüler oder Angeklagte. In alten Zeiten sprach man auch von einem strengen Herrscher, etwa einem König.
Worum geht es Frau Dr. Stern? Wessen Vorteil oder Nutzen verfolgt sie mit ihrer Strenge? Auf diese Fragen sind drei Antworten möglich:
Antwort 1: Frau Dr. Stern ist streng, weil sie einen Vorteil für sich damit erreichen möchte. So könnte es sein, dass sie Freude daran hat, Macht auszuüben. Oder sie will befördert werden und hofft, einen guten Eindruck auf ihre Vorgesetzten zu machen.
Antwort 2: Frau Dr. Stern ist streng, weil sie damit einen Vorteil für die Schülerinnen und Schüler erreichen möchte. Sie möchte, dass ihre Schülerinnen und Schüler so viel wie möglich lernen.
Antwort 3: Frau Dr. Stern ist streng, weil sie einen Vorteil für Dritte erreichen möchte. Sie will, dass ihre Schule einen guten Ruf hat und viele Eltern ihre Kinder anmelden.
Ich wende mich nun (II) der Person zu, gegenüber der Dr. Stern streng ist, nämlich die Schülerinnen und Schüler.
Die Schülerinnen und Schüler stehen nicht auf gleicher Stufe im Machtgefüge der Schule wie Frau Dr. Stern. Die Schüler und Schülerinnen stehen unter Frau Dr. Stern. Frau Dr. Stern darf den Schülern und Schülerinnen Weisungen erteilen; die Schüler und Schülerinnen hingegen dürfen Frau Dr. Stern nicht sagen, was sie tun oder lassen soll.
Die Schülerinnen und Schüler gehen zur Schule, damit sie etwas lernen. Sie lernen aber nur dann etwas, wenn sie zum Beispiel ihre Hausaufgaben ordentlich erledigen oder sich am Unterricht aufmerksam beteiligen. Einige Schülerinnen und Schüler aber wollen gar nichts lernen. Einige Schüler wollen vielleicht etwas lernen, denken aber nicht, dass sie dafür arbeiten müssen. Einige Schüler wollen vielleicht etwas lernen und wissen auch, dass sie dafür arbeiten müssen, aber sie bringen von sich aus nicht die Willenskraft auf, hart zu arbeiten. Vielleicht sind sie faul, vielleicht halten andere Dinge sie von der Arbeit ab. In einem Wort: Viele Schüler und Schülerinnen lernen und arbeiten vielleicht nicht aus eigenem Antrieb. Sie brauchen einen äußeren Antrieb, um zu tun, was für sie selbst langfristig gut und wohltätig ist. Frau Dr. Stern treibt sie an. Sie bietet den Schülerinnen und Schülern eine Art Außenstütze, weil die Innenstütze der Schülerinnen und Schüler noch zu schwach ist. Das ist für die Schüler und Schülerinnen nicht angenehm; aber es ist gut für sie.
Diese Außenstütze stellt Frau Dr. Stern durch (III) ihr strenges Verhalten bereit. Diesem strengen Verhalten wende ich mich nun zu.
Frau Dr. Sterns strenges Verhalten hat drei Ebenen:
Die erste Ebene des strengen Verhaltens ist die Ebene des Forderns. Frau Dr. Stern fordert viel. Sie stellt hohe Ansprüche an die Schüler. Dabei teilt sie den Schülerinnen und Schülern unmissverständlich mit, was sie, Frau Dr. Stern, von ihnen, den Schülerinnen und Schülern, erwartet. Da kann keiner sagen: „Ach, das habe ich gar nicht gewusst!“
Die zweite Ebene des strengen Verhaltens ist die Ebene der Achtsamkeit. Frau Dr. Stern fordert nicht nur viel, sie prüft auch, ob die Schülerinnen und Schüler das tun, was sie als Lehrerin von den Schülern und Schülerinnen fordert. Sie achtet auf die Erfüllung ihrer Forderungen. Diese Prüfung verlangt von Frau Dr. Stern selbst einige Anstrengung ab.
Die dritte Ebene des strengen Verhaltens ist die Ebene dessen, was aus einem Fehlverhalten folgt. Etwas krass und übertrieben könnte diese Ebene als Ebene der Strafe bezeichnet werden. Wer seine Hausarbeiten nicht macht, bekommt eine schlechte Note, bekommt Ärger mit seinen Erziehungsberechtigten. Dabei gehört zum strengen Verhalten, dass sich Frau Dr. Stern nicht mit jeder billigen Entschuldigung abspeisen lässt. Und so wie klar und eindeutig ist, was Frau Dr. Stern fordert, so ist auch klar und eindeutig, was passiert, sofern die Schüler und Schülerinnen ihre Forderungen nicht erfüllen.
Die Strenge ist (III) auf einen bestimmten Lebensbereich beschränkt. Frau Dr. Sterns Strenge bezieht sich auf ihren Unterricht. Zudem bezieht sich ihre Strenge nur auf das, was sie überprüfen kann. Dies ergibt sich aus der Verhaltensebene der Achtsamkeit: Frau Dr. Stern kann nur das, was sie beobachten kann, prüfen.
Oft stimmt mit der Strenge etwas nicht. Es ist bisweilen etwas fehlerhaft an der Strenge. Manchmal ist der Fehler so groß, dass es fraglich ist, ob es sich überhaupt noch um Strenge handelt.
Einige Fehler hängen (I) mit der strengen Person zusammen:
Die Person hat gar keine wirkliche Macht. Jacqueline erzieht ihren Sohn Floris alleine. Seit einiger Zeit ist Jacqueline verliebt in Boris und Boris ist bei Jaqueline eingezogen. Es dauert nicht lange und Boris fängt an, Floris zu sagen, was er zu tun hat: „Räume dein Zimmer auf!“, „Bringe den Müll herunter!“, „Ziehe Dir die Schuhe in der Wohnung aus!“ Boris benimmt sich wie ein strenger Vater. Doch Boris ist natürlich nicht Floris‘ Vater. Boris versucht, streng zu sein, hat aber gar nicht die Rolle inne, die ihn dazu berechtigt. Boris hat Floris gar nichts zu sagen! Als Liebhaber von Floris‘ Mutter geht Boris das, was Floris tut, nicht die Bohne an.
Oder: Die Person hat zwar Macht, aber diese Macht kommt ihr nicht von Rechts wegen zu. Gundula ist Anführerin einer Einbrecherbande. Gundula verlangt von den Bandenmitgliedern viel. Gundula überwacht genau, ob ihre Befehle befolgt werden. Gundula bestraft jeden empfindlich, der nicht genau tut, was sie anordnet. Ich würde Gundula trotz ihrer Macht nicht im eigentlichen Sinn als streng bezeichnen, denn Gundula hat ihre Machtstellung nicht zu Recht inne.
Einige Fehler hängen eher (III) mit dem Verhalten der strengen Person zusammen.
Die strenge Person ist unberechenbar. So einer ist der Lateinlehrer Wolfgang Golgan: Einmal ist er streng, ein anderes Mal ist er nicht streng. Mit einigen Schülern ist er streng, mit anderen Schülern ist er nicht streng. Oft wissen die Schüler gar nicht genau, was Herr Golgan will. Ebenso unklar ist, was dann passiert, wenn die Schüler nicht das tun, was er sagt.
Einige Fehler hängen (II) mit der Person zusammen, die streng behandelt wird.
Manche Schülerinnen und Schüler arbeiten und lernen von sich aus. Sie brauchen keine strengen Lehrinnen und Lehrer.
Manchen Schülern oder Schülerinnen müsste die Lehrerin nur in Ruhe erklären, wieso es wichtig und gut ist, zu arbeiten und zu lernen. Es reicht schon, sie zu ermahnen.
Manche Schülerinnen und Schüler sind ängstlich und scheu. Strenges Verhalten würde sie nur erschrecken und verstören, aber nicht anspornen.
Einige Fehler hängen (IV) mit dem Bereich zusammen, auf den sich die Strenge bezieht.
Wenn Dr. Stern den Schülern und Schülerinnen vorschriebe, wie sie sich anzuziehen haben oder wie sie sich die Haare schneiden lassen sollen, dann überschritte sie die Grenze ihrer Zuständigkeit.
Wenn Dr. Stern von den Schülern und Schülerinnen etwas verlangte, was sie als Lehrerin gar nicht überprüfen kann, dann überschritte sie die Grenzen möglicher Strenge. So könnte Frau Dr. Stern verlangen, dass die Schüler das Fach Englisch lieben. Das wäre Unsinn und verfehlt.
Soviel zur fehlerhaften Strenge.
Die Gegensätze zur Strenge ergeben sich aus (III) dem strengen Verhalten.
Grob gesprochen gibt es zwei Gegensätze zur Strenge. (a) Es ist möglich, zu streng zu sein. (b) Es ist möglich, zu wenig streng zu sein. Es gibt (a) Überstrenge und (b) Unterstrenge. Es gibt drei Formen der (a) Überstrenge und es gibt drei Formen der Unterstrenge (b).
Form 1: Dr. Stern kann (a) zu hohe Forderungen stellen. Sie überfordert die Schülerinnen und Schüler. Dr. Stern kann (b) zu geringe Forderungen stellen. Dr. Stern unterfordert die Schülerinnen und Schüler.
Form 2: Dr. Stern kann (a) gar keine Entschuldigung gelten lassen, sofern die Hausarbeiten nicht gemacht sind. Dr. Stern kann (b) jede oder fast jede Entschuldigung gelten lassen, sofern die Hausarbeiten nicht gemacht sind. Form 3: Dr. Stern kann (a) Fehlverhalten viel zu hart behandeln. Frau Dr. Stern kann (b) Fehlverhalten viel zu nachsichtig behandeln.