Begriffserklärung
Was Rache ist, erkläre ich in drei Schritten.
Schritt 1: Ich stelle grob vor, was wesentlich zur Rache gehört. Um im Umriss zu lernen, was Rache ist, reicht es, das zu lesen, was ich in Schritt 1 vorstelle.
Schritt 2: Ich grenze Rache von anderen Verhaltensweisen ab.
Schritt 3: Ich überlege, welche Arten der Rache es gibt.
Schritt 1: Was ist Rache?
Ich beginne mit einem Beispiel:
Orhan und Tarek sind Zwillingsbrüder. Orhans und Tareks Großmutter hat beiden zum 16. Geburtstag ein Fahrrad geschenkt. Eines Tages beschmiert Tarek den braunen Sattel von Orhans Fahrrad mit Hundekot. Orhan merkt das erst, als er aufs Fahrrad steigt. Da sieht Orhan, wie Tarek aus dem Fenster schaut und lacht. Sofort weiß Orhan, wer ihm diesen bösen Streich gespielt hat.
Zwei Tage später steigt Tarek auf sein Fahrrad. Als er an der Kreuzung bremsen will, fährt das Fahrrad einfach weiter und er kommt fast unter ein Auto. Orhan hat die Bremskabel von Tareks Fahrrad durchgeschnitten.
Aus diesem Beispiel leite ich 11 Sätze über die Rache ab:
Satz 1: Zur Rache gehören wenigstens zwei Personen. Erstens muss es eine Person geben, die sich rächt. Die Person, die sich rächt, ist die Rächerin oder der Rächer. Orhan ist der Rächer. Zweitens muss es eine Person geben, an der der Rächer sich rächt. Orhan rächt sich an Tarek. Tarek ist die Person, an der sich Orhan rächt.
Satz 2: Rache steht nicht am Anfang. Am Anfang steht vielmehr das, was Tarek tut: Tarek schmiert Hundedreck auf Orhans Fahrradsattel. Danach erst rächt sich Orhan, indem Orhan die Bremskabel von Tareks Fahrrad durchschneidet. Ich nenne das, was Tarek tut, die Anfangstat. Tarek ist der Täter der Anfangstat. Orhan ist das Opfer der Anfangstat. Das Opfer der Anfangstat ist der spätere Rächer. Der Täter der Anfangstat ist die Person, an der das Opfer der Anfangstat sich später rächt. In einem Wort: Die Rache ist keine Anfangstat; die Rache ist eine Antworttat. Es kommt zu einem Rollentausch: Am Anfang ist Tarek der Täter und Orhan ist das Opfer. Danach ist Orhan der Täter und Tarek das Opfer. Tarek ist der Täter der Anfangstat und Orhan ist das Opfer der Anfangstat; Orhan hingegen ist, indem er später zum Rächer wird, der Täter der Rachetat und Tarek ist dann das Opfer der Rachetat.
Täter | Opfer | |
der Anfangstat | Tarek | Orhan |
der Rachetat | Orhan | Tarek |
Satz 3: Die Rache findet aber nicht nur einfach nach der Anfangstat statt. Vielmehr ist die Rache eine Antwort auf die Anfangstat. Die Rache bezieht sich auf die Anfangstat.
Ich stelle mir vor, Tarek schmiert Orhans Sattel um 23 Uhr mit Hundedreck ein. Orhan weiß davon aber noch nichts. Orhan schleicht sich um 24 Uhr aus dem Haus und schneidet Tareks Bremskabel durch.
In diesem Fall liegt Orhans Bremskabelschneiderei zeitlich nach Tareks Sattelschmiererei. In diesem Fall liegt aber keine Rache vor, weil Tarek und Orhan völlig unabhängig voneinander handeln. Zur Rache gehört, dass die Rachetat eine Antwort auf die Anfangstat sein muss.
Wenn der Vater fragt: „Orhan, warum hast Du die Bremskabel von Tareks Fahrrad zerschnitten?“, dann müsste Orhan im Falle einer Rachetat antworten: „Ich habe Tareks Bremskabel zerschnitten, weil Orhan meinen Sattel mit Hundekot beschmiert hat.“
Satz 4: Die Anfangstat weist fünf Eigenschaften auf:
Eigenschaft 1: Die Anfangstat ist schlecht, böse, schädlich. Durch die Anfangstat des Täters wird dem Opfer ein Übel zugefügt: Orhans Sattel ist unbrauchbar. Orhan ekelt sich schrecklich, weil seine Hose voll Hundekot ist.
Eigenschaft 2: Die Anfangstat ist ganz und gar gegen den Willen des Opfers der Anfangstat. Natürlich will Orhan nicht, dass sein Sattel mit Hundekot beschmiert wird.
Eigenschaft 3: Das Opfer der Anfangstat kann nichts gegen die Anfangstat tun. Das Opfer der Anfangstat ist ohnmächtig. Orhan schlief, als Tarek den Sattel beschmierte.
Eigenschaft 4: Die Anfangstat ist dem Täter der Anfangstat zuzurechnen. Der Täter der Anfangstat ist verantwortlich für die Anfangstat. Um das zu erklären, verändere ich das Beispiel so, dass Tarek für den Schaden eben nicht verantwortlich ist:
Ich stelle mir vor, Orhans Rad steht unter einem Regal. Aus Versehen stößt Tarek eine Flasche mit gebrauchtem Motoröl um und merkt das nicht. Der Deckel der Motorölflasche ist nicht dicht. Das schwarze Öl läuft über Orhans Sattel und verdirbt das Leder des Sattels. Orhan wird sich nicht an Tarek rächen, solange Orhan glaubt, dass Tarek nichts dafür kann.
Eigenschaft 5: Der Täter der Anfangstat ist nicht berechtigt, die Anfangstat auszuführen. Orhan ist faul und lernt nicht. So gibt die Englischlehrerin Orhan eine Fünf und auch die Mathematiklehrerin gibt Orhan eine Fünf. Orhan bleibt sitzen. Das ist ein Übel. Orhan aber weiß, dass die Noten berechtigt sind. Also wird Orhan sich nicht rächen. An seinem Sportlehrer hingegen will Orhan sich rächen. Der Sportlehrer ist besonders fies zu Orhan und gibt Orhan eine Vier in Sport. Das ist völlig ungerecht.
Die Anfangstat ist mithin eine freiwillige Handlung (Eigenschaft 4) des Täters der Anfangstat, die dem Opfer der Anfangstat schadet (Eigenschaft 1) und gegen den Willen des Opfers der Anfangstat ist (Eigenschaft 2), ohne dass das Opfer der Anfangstat sich gegen die Anfangstat wehren kann (Eigenschaft 3). Und schließlich hat der Täter der Anfangstat kein Recht, die Anfangstat auszuführen (Eigenschaft 5).
Satz 5: Nach der Anfangstat überlegt das Opfer der Anfangstat, wie es sich rächen will. Deshalb liegt zwischen der Anfangstat und der Rache oft auch eine gewisse Zeit. Die Zeit zwischen der Anfangstat und der Rache kann mehr oder weniger lang sein. Das hängt davon ab, wie lange das Opfer der Anfangstat überlegt; das hängt aber auch davon ab, wie schnell sich eine passende Gelegenheit zur Rache bietet.
Satz 6: Wer sich rächt, muss sich erinnern. Das Opfer der Anfangstat darf das, was der Täter der Anfangstat getan hat, nicht vergessen.
Satz 7: Die Rache selbst ist ebenfalls wieder ein Übel. Orhan schädigt Tarek. Das Opfer der Anfangstat fügt nun dem Täter der Anfangstat ein Übel zu. Und auch das Opfer der Anfangstat handelt nicht aus Versehen, sondern in voller Absicht.
Satz 8: Bei der Rache geht es dem Opfer der Anfangstat eigentlich und im Kern darum, dem Täter der Anfangstat einen Schaden zuzufügen. Alles andere ist nebensächlich. Die Schädigung des Täters der Anfangstat ist das Kernziel der Rache.
Satz 9: Zumeist wird die Rache von Gefühlen begleitet. Orhan ist wütend auf Tarek, weil Tarek Orhans Sattel mit Hundekot beschmiert hat. Vielleicht hasst Orhan Tarek sogar richtig. Orhan ist traurig, weil sein schöner Ledersattel nicht mehr zu gebrauchen ist. Sich auszumalen, wie er, Orhan, sich an Tarek rächen wird, bereitet Orhan Freude und Lust.
Satz 10: Dem Opfer der Anfangstat darf nicht alles gleichgültig sein. Das Opfer rächt sich, weil etwas, was dem Opfer der Anfangstat wichtig und wertvoll ist, beschädigt wurde.
Satz 11: Das Opfer der Anfangstat muss Verstand besitzen, um die Rache zu planen. Wesen, die keinen Verstand haben, können sich nicht rächen.
Schritt 2: Von welchen Verhaltensweisen ist die Rache abzugrenzen?
Abgrenzung 1: Die Rache ist von der Schadensabwehr abzugrenzen. Wer sich rächt, verteidigt sich nicht. Wer sich verteidigt, schützt nämlich ein Gut vor einem Angriff, bevor das Gut beschädigt oder zerstört ist: Orhan sieht, wie Tarek anfangen will, Orhans Ledersattel zu beschmieren. Orhan nimmt einen Stock und schlägt Tarek die Dose mit dem Hundedreck aus der Hand. In diesem Fall verteidigt sich Orhan. Im Fall der Rache hingegen ist das Gut bereits beschädigt. Die Rache kommt nach der Beschädigung. Um den Schaden abzuwehren, kommt die Rache zu spät.
Abgrenzung 2: Die Rache ist vom unmittelbaren, unüberlegten Gegenschlag abzugrenzen. Armin beschimpft Leander: „Du Hurensohn!“ Sofort bricht Leander Armin die Nase. Die Rache hingegen erfolgt nicht sofort. Die Rache wird geplant: Armin beschimpft Leanders Mutter als Hure. Einige Wochen später schüttet Leander Armin Säure ins Gesicht.
Abgrenzung 3: Die Rache ist von der Feindesliebe abzugrenzen. Tarek schmiert Orhans Sattel ein. Das ist die Anfangstat. Orhan zertrennt Tareks Bremskabel. Das ist die Antworttat. Rache antwortet auf Böses mit Bösem. Wer auf Böses mit Gutem antwortet, rächt sich nicht. Auf Böses mit Gutem zu antworten, ist von der Rache abzugrenzen. Ein Antwortverhalten, bei dem Böses mit Gutem vergolten wird, bezeichne ich als Feindesliebe.
Hier ist ein Beispiel, in dem sich das Opfer einer Anfangstat für eine böse Tat nicht rächt, sondern dem Täter der Anfangstat etwas Gutes tut: Gloria Sonnenschein ist vom Glück verwöhnt. Marie Pech hingegen ist vom Unglück verfolgt. Das war schon immer so. Die beiden kennen sich seit ihrer Schulzeit. Als Gloria Sonnenschein im Lotto vier Millionen Euro gewinnt, kauft Gloria Sonnenschein sich zunächst eine Villa im hübschesten Viertel der Stadt. Kurze Zeit später steht ein Porsche in Indischrot mit Ledersitzen vor der Garage. Das ist zu viel für Marie Pech. Nachts bricht Marie Pech einen Außenspiegel des Porsche ab. Zufällig sieht Gloria das. Doch sie ist nicht ärgerlich auf Marie Pech. Gloria hat vielmehr Mitleid mit ihrer alten Freundin Marie. Gloria schenkt Marie einen Mazda3. Marie ist beschämt und glücklich.
Abgrenzung 4: Rache ist von der Wiedergutmachung abzugrenzen. Rache macht den Schaden nicht wieder gut. Tarek beschmiert Orhans Sattel mit Hundedreck. Daraufhin nimmt Orhan Tarek dessen Sattel weg und schraubt ihn auf sein eigenes Fahrrad. Oder Orhan stiehlt 200 € von Tarek und kauft sich einen Ersatzsattel. In diesen Fällen spreche ich nicht von Rache. Meist lässt sich der Schaden, den der Täter der Anfangstat dem Opfer der Anfangstat zufügt, so oder so nicht wieder gutmachen. Und gerade in solchen Fällen, in denen der Schaden nicht wieder gutgemacht werden kann, rächt sich das Opfer der Anfangstat.
Abgrenzung 5: Rache ist von der Strafe abzugrenzen. Die Rache ist die Antworttat des Opfers der Anfangstat auf die Anfangstat des Täters. Bei der Rache gibt es nur zwei Personen: den Täter der Anfangstat (Person 1) und das Opfer der Anfangstat (Person 2). Beide, Täter und Opfer der Anfangstat, stehen auf einer Ebene. Bei der Strafe hingegen gibt es drei Personen: den Täter (Person 1), das Opfer (Person 2) und den Richter (Person 3). Dabei steht der Richter über dem Täter und dem Opfer: Orhan zeigt Tarek wegen Sachbeschädigung an. Die Richterin verurteilt Tarek zu 20 Sozialstunden.
Abgrenzung 6: Die Rache ist von der Sühne oder Buße abzugrenzen. Um das zu erklären, gebe ich ein anderes Beispiel:
Jupp ist 85 Jahre alt. Jupp fährt einen Porsche. Manchmal fährt er seinen Porsche sogar, nachdem er in der Kneipe mit seinen Freunden ein paar Bier getrunken hat. Jupps Kinder haben ihm oft gesagt: „Vater, du solltest den Führerschein abgeben!“ Jupps Freunde haben ihm oft gesagt: „Jupp, nimm besser ein Taxi! Du hattest fünf Bier!“ Aber Reden nutzt bei Jupp nichts. Jupp hat ein sonniges Gemüt. Sein Grundsatz ist: Es ist noch immer gut gegangen! Eines Nachts fährt er wieder nach fünf Bier mit seinem Porsche heim.
Zu spät sieht Jupp, wie eine Frau auf einem Zebrastreifen die Straße überquert. Die Frau ist Kathi Blum. Kathi Blum ist Krankenschwester und kommt gerade von der Spätschicht. Jupp überfährt Kathi Blum. Kathi Blum überlebt. Kathi Blum ist seit dem Unfall querschnittsgelähmt. Außerdem war Kathi Blum schwanger und hatte durch den Unfall eine Fehlgeburt. Jupp kann sich das nicht verzeihen. Vor Verzweiflung springt er in den Rhein und ertrinkt.
Jupp fügt sich selbst einen Schaden zu. Er tötet sich. Das ist keine Rache. Rache geht von einem anderen aus. Bei der Rache wird das Opfer der Anfangstat tätig. So könnte Kathi Blum sich eine Pistole besorgen und Jupp ins Rückenmark schießen, so dass auch Jupp querschnittsgelähmt ist.
Schritt 3: Welche Arten der Rache lassen sich unterscheiden?
Unterscheidung 1: Es gibt die Rache (1.1) im Kleinen und die Rache (1.2) im Großen. (1.1) Orhans Rache ist eine Rache im Kleinen. (1.2) Kathi Blums Rache, Jupp ins Rückenmark zu schießen, ist eine Rache im Großen.
Unterscheidung 2: Es gibt Rache, die (2.1) verhältnismäßig ist, und es gibt Rache, die (2.2) unverhältnismäßig ist. (2.1) Verhältnismäßig ist eine Rache, bei der die Anfangstat und die Rachetat etwa gleich schlimm sind: Tarek beschmiert Orhans Sattel mit Rübenkraut. Orhan beschmiert Tareks Sattel mit Honig. Das ist verhältnismäßig. (2.2) Unverhältnismäßig ist eine Rache, bei der die Anfangstat und die Rachetat nicht gleich schlimm sind. Dabei kann (2.2.1) die Rachetat schlimmer sein als die Anfangstat: Tarek beschmiert Orhans Sattel mit Rübenkraut. Orhan vergiftet Tareks Hund und wirft Tareks Fahrrad in den Rhein. Oder: Leander knutscht mit Jacqueline. Jacquelines Freund Torben erfährt das. Torben und seine Bande schlagen Leander aus Rache zusammen. Nun sitzt Leander im Rollstuhl. Dabei kann (2.2.2) die Rachetat weniger schlimm sein als die Anfangstat: Tarek wirft Orhans Fahrrad in den Rhein. Orhan schmiert Honig auf Tareks Lenkergriffe.
Unterscheidung 3: Das Kernziel der Rache ist, dem Täter zu schaden. Es gibt (3.1) Rache, die über dieses Ziel hinaus noch weitere Ziele verfolgt. Es gibt (3.2) Rache, die kein weiteres Ziel verfolgt.
Über die Schadenszufügung hinaus hat Rache oft diese weiteren Zusatzziele:
Zusatzziel 1 ist die Abschreckung: Die Rächerin will andere abschrecken. Armin legt heimlich auf Marlenes Pausenbrot ein Kondom. Marlene übergibt sich vor Ekel. Einige Tage später zündet Marlene Armins Opel Manta an. Mit ihrer Rache will Marlene erreichen, dass Armin sie selbst, Marlene, nicht mehr belästigt. Mit ihrer Rache will Marlene erreichen, dass Armin andere nicht mehr belästigt. Mit ihrer Rache will Marlene erreichen, dass andere Männer weder sie, Marlene, noch andere Frauen belästigen.
Zusatzziel 2 ist die Verhinderung: Die Rächerin will verhindern, dass der Täter noch einmal zuschlägt. Egon vergewaltigt Katrin. Vor Gericht wird Egon freigesprochen. Katrins Freundin Laura ist Ärztin. Eines Abends verkleidet sich Laura: Perücke, farbige Kontaktlinsen, dicke Schminke. In einer Hotelbar spricht Laura Egon an. Laura lockt Egon in ein Hotelzimmer. Sie tut so, als wolle sie mit Egon schlafen. Im Hotelzimmer mischt Laura Egon ein Betäubungsmittel in den Wein. Als Egon aufwacht, ist Egon gefesselt und geknebelt. Vor ihm stehen zwei maskierte Frauen: Katrin und Laura. Laura schneidet nun Egon mit einem Skalpell den Hoden und den Penis ab und versorgt die Wunde. Danach verschwinden Laura und Katrin. Sie rufen später im Hotel an: „Auf Zimmer 334 liegt eine verwundete Person.“ Egon wird nun keine Frau mehr vergewaltigen. Das haben Katrin und Laura verhindert.
Zusatzziel 3 ist die Selbstermächtigung: Das Opfer der Anfangstat kann sich gegen die Anfangstat nicht wehren. Das Opfer der Anfangstat empfindet sich als ohnmächtig. Indem das Opfer der Anfangstat sich rächt, gewinnt es Macht zurück.
Zusatzziel 4 ist die Gerechtigkeit: Einem Bösewicht geht es gut. Das ist empörend. Das ist nicht gerecht. Das darf so nicht sein. Wer einem Bösewicht schadet, sorgt somit für Gerechtigkeit. Den Bösen soll es schlecht gehen. Den Guten soll es gut gehen.
Zusatzziel 5 ist der Gewinn: Rache ist zwar von der Wiedergutmachung abzugrenzen. Bisweilen folgt aber aus der Rache ein Gewinn für die Rächerin. Thomas ist ein widerlicher Angeber. Über andere macht Thomas sich lustig. Thomas redet ohne Pause und hört nicht zu. Abends treffen sich Thomas, Heike, Ursula und Simon in einem teuren Restaurant. Thomas redet wieder ununterbrochen. Thomas erklärt den anderen die Welt. Insbesondere Heike kommt kaum zu Wort. Und wenn Heike einmal etwas sagt, dann macht Thomas sich darüber lustig. Ursula und Simon gehen etwas früher, weil sie Thomas nicht mehr ertragen. Heike muss nun alleine Thomas‘ Gerede aushalten. Als Thomas kurz auf die Toilette muss, holt Heike heimlich Thomas‘ Portemonnaie aus seiner Jacke und nimmt 300 € an sich. Damit will sie sich dafür rächen, dass Thomas zu ihr immer so hässlich und verächtlich ist. Als Thomas wieder an den Tisch kommt, sagt er nur schnell „Tschüss“, lässt Heike sitzen und setzt sich neben eine junge, blonde Frau an die Theke. Heike zahlt ihre Rechnung und geht.
Einige Tage später lädt Heike Simon und Ursula von den 300 €, die Heike Thomas gestohlen hat. zum Essen sein. Es ist ein wunderbarer Abend, an dem sie viel über Thomas lästern.
All diese Zusatzziele dürfen aber nicht der eigentliche Beweggrund sein, sonst ist es keine Rache. Ob Rache vorliegt oder nicht, lässt sich mit einer Testfrage prüfen. So könnte ich Heike fragen: „Heike, würdest du auch dann Thomas einen Schaden zugefügt haben, wenn du keinen Gewinn davon gehabt hättest?“ Heike könnte sagen: „Ja, auch ohne Gewinn hätte ich Thomas geschadet. Hauptsache: Thomas geht es schlecht! Ich hätte auch Thomas‘ Kreditkarte zerschneiden können.“ Hier liegt Rache vor. Heike könnte aber auch sagen: „Nein, mir kam es schon auf die 300 € an.“ Hier liegt keine Rache vor. Allgemein lautet die Testfrage: „Würdest du auch dann dem Anfangstäter einen Schaden zugefügt haben, wenn deine Tat außer dem Schaden für den Anfangstäter keine weitere Wirkung hätte?“ Damit Rache vorliegt, muss diese Testfrage mit Ja beantwortet werden.
Unterscheidung 4: In der Regel gibt es bei der Rache nur zwei Personen: Orhan rächt sich an Tarek dafür, dass Tarek Orhans Sattel beschmiert hat. Der Täter der Anfangstat schädigt zunächst das Opfer der Anfangstat. Dann wird das Opfer der Anfangstat zum Täter und schädigt den Täter der Anfangstat, der nun seinerseits zum Opfer der Rachetat wird. Manchmal aber ist das nicht so einfach. Ich kann nämlich eine doppelte Feinunterscheidung vornehmen:
Feinunterscheidung 4.1: Manchmal (i) schädigt der Täter der Anfangstat das Opfer der Anfangstat selbst. Der Täter der Anfangstat schädigt das Opfer der Anfangstat unmittelbar. Manchmal (ii) schädigt der Täter der Anfangstat eine Person, mit der das Opfer der Anfangstat verbunden ist. Der Täter der Anfangstat schädigt das Opfer der Anfangstat mittelbar.
Feinunterscheidung 4.2: Daraufhin rächt sich das Opfer der Anfangstat manchmal (a) unmittelbar am Täter der Anfangstat. Manchmal rächt sich das Opfer der Anfangstat (b) an einer Person, die mit dem Täter der Anfangstat verbunden ist. Manchmal rächt sich das Opfer der Anfangstat (c) an einer Person, die dem Täter der Anfangstat ähnlich ist.
Ich verbinde nun Feinunterscheidung 4.1 mit Feinunterscheidung 4.2 und erhalte so sechs Fälle:
Fall 1: Der Täter der Anfangstat schädigt das Opfer der Anfangstat unmittelbar und das Opfer der Anfangstat rächt sich unmittelbar am Täter der Anfangstat. Egon vergewaltigt Else. Else besorgt sich einen Revolver und erschießt Egon.
Fall 2: Der Täter der Anfangstat schädigt das Opfer der Anfangstat unmittelbar und das Opfer der Anfangstat schädigt eine Person, die mit dem Täter der Anfangstat verbunden ist. Egon vergewaltigt Else. Else besorgt sich einen Revolver und erschießt Egons Tochter.
Fall 3: Der Täter der Anfangstat schädigt das Opfer der Anfangstat unmittelbar und das Opfer der Anfangstat schädigt eine Person, die dem Täter der Anfangstat ähnlich ist. Else wird von einem Unbekannten vergewaltigt. Else besorgt sich einen Revolver. Im Minirock geht sie nun nachts durch die übelsten Ecken der Stadt. Sobald ein Mann sie gierig angafft oder gar anspricht, erschießt sie den Mann.
Fall 4: Der Täter der Anfangstat schädigt eine Person, die mit dem Opfer der Anfangstat verbunden ist, und das Opfer der Anfangstat rächt sich unmittelbar am Täter der Anfangstat. Egon vergewaltigt Elses Tochter. Else besorgt sich einen Revolver und erschießt Egon.
Fall 5: Der Täter der Anfangstat schädigt eine Person, die mit dem Opfer der Anfangstat verbunden ist und das Opfer der Anfangstat schädigt eine Person, die mit dem Täter der Anfangstat verbunden ist. Egon vergewaltigt Elses Tochter. Else besorgt sich einen Revolver und erschießt Egons Tochter.
Fall 6: Der Täter der Anfangstat schädigt eine Person, die mit dem Opfer der Anfangstat verbunden ist, und das Opfer der Anfangstat schädigt eine Person, die dem Täter der Anfangstat ähnlich ist. Ein unbekannter Mann vergewaltigt Elses Tochter. Else besorgt sich einen Revolver. Im Minirock geht sie nun nachts durch die übelsten Ecken der Stadt. Sobald ein Mann sie gierig angafft oder gar anspricht, erschießt sie den Mann.
Was Rache ist, verdeutliche ich abschließend mit einer kleinen, allgemeinen Geschichte. Rachegeschichten haben nämlich immer diese Form. Ich nenne solche Geschichten deshalb Formgeschichten. Die Formgeschichte zur Rache geht so:
Die Geschichte beginnt mit der Anfangstat des Täters. Die Anfangstat ist dem Täter zuzurechnen. Der Täter ist für die Anfangstat verantwortlich. Die Anfangstat des Täters ist für das Opfer schlecht und geschieht gegen dessen Willen. Der Täter fügt dem Opfer durch die Anfangstat einen Schaden zu. Die Anfangstat ist eine Schädigung des Opfers. Der Täter ist nicht berechtigt, dem Opfer einen Schaden zuzufügen. Das Opfer nun überlegt, wie es den Täter umgekehrt schädigen kann. Um zu überlegen, wie es dem Täter schaden kann, braucht das Opfer Zeit. Während dieser Zeit vergisst das Opfer keineswegs, was der Täter ihm angetan hat. Und oft malt sich das Opfer während dieser Zeit mit Lust und Freude aus, wie es sich am Täter rächen wird, wie das Opfer nun seinerseits dem Täter ein Übel zufügen wird. Bei nächster Gelegenheit wird das Opfer der Anfangstat selbst zum Täter einer Rachetat und fügt dem Täter der Anfangstat ein Übel zu. Dabei schädigt das Opfer den Anfangstäter nicht einfach so. Das Opfer der Anfangstat fügt dem Täter der Anfangstat genau deshalb einen Schaden zu, weil der Täter der Anfangstat dem Opfer der Anfangstat vorher einen Schaden zugefügt hat.
Die Wörter, die ich kursiv geschrieben habe, sind Platzhalter. Ich kann jede besondere Rachegeschichte in die Form dieser allgemeinen Geschichte nacherzählen. Dazu muss ich nur die Platzhalter ausfüllen. Für das Beispiel von Tarek und Orhan wären die Platzhalter so zu ersetzen: Tarek ist der Täter; Orhan ist das Opfer; die Anfangstat besteht darin, dass Tarek Orhans Sattel beschmiert; das Übel, das Orhan später Tarek zufügt, ist: Orhan zerschneidet Tareks Bremskabel.