Thomas Nisters

Wörterbuch
philo­sophischer Alltags­begriffe

Rache

Begriffserklärung

Begriffserklärung

Was Rache ist, erkläre ich in drei Schritten.

Schritt 1:  Ich stelle grob vor, was wesentlich zur Rache gehört. Um im Umriss zu lernen, was Rache ist, reicht es, das zu lesen, was ich in Schritt 1 vorstelle.

Schritt 2: Ich grenze Rache von anderen Verhaltensweisen ab.

Schritt 3: Ich überlege, welche Arten der Rache es gibt.

Schritt 1: Was ist Rache?

Ich beginne mit einem Beispiel:

Orhan und Tarek sind Zwillingsbrüder. Orhans und Tareks Großmutter hat beiden zum 16. Geburtstag ein Fahrrad geschenkt. Eines Tages beschmiert Tarek den braunen Sattel von Orhans Fahrrad mit Hundekot. Orhan merkt das erst, als er aufs Fahrrad steigt. Da sieht Orhan, wie Tarek aus dem Fenster schaut und lacht. Sofort weiß Orhan, wer ihm diesen bösen Streich gespielt hat.

Zwei Tage später steigt Tarek auf sein Fahrrad. Als er an der Kreuzung bremsen will, fährt das Fahrrad einfach weiter und er kommt fast unter ein Auto. Orhan hat die Bremskabel von Tareks Fahrrad durchgeschnitten.

Aus diesem Beispiel leite ich 11 Sätze über die Rache ab:

Satz 1: Zur Rache gehören wenigstens zwei Personen. Erstens muss es eine Person geben, die sich rächt. Die Person, die sich rächt, ist die Rächerin oder der Rächer. Orhan ist der Rächer. Zweitens muss es eine Person geben, an der der Rächer sich rächt. Orhan rächt sich an Tarek. Tarek ist die Person, an der sich Orhan rächt.

Satz 2: Rache steht nicht am Anfang. Am Anfang steht vielmehr das, was Tarek tut: Tarek schmiert Hundedreck auf Orhans Fahrradsattel. Danach erst rächt sich Orhan, indem Orhan die Bremskabel von Tareks Fahrrad durchschneidet. Ich nenne das, was Tarek tut, die Anfangstat. Tarek ist der Täter der Anfangstat. Orhan ist das Opfer der Anfangstat. Das Opfer der Anfangstat ist der spätere Rächer. Der Täter der Anfangstat ist die Person, an der das Opfer der Anfangstat sich später rächt. In einem Wort: Die Rache ist keine Anfangstat; die Rache ist eine Antworttat. Es kommt zu einem Rollentausch: Am Anfang ist Tarek der Täter und Orhan ist das Opfer. Danach ist Orhan der Täter und Tarek das Opfer. Tarek ist der Täter der Anfangstat und Orhan ist das Opfer der Anfangstat; Orhan hingegen ist, indem er später zum Rächer wird, der Täter der Rachetat und Tarek ist dann das Opfer der Rachetat.

 TäterOpfer
der AnfangstatTarekOrhan
der RachetatOrhanTarek

Satz 3: Die Rache findet aber nicht nur einfach nach der Anfangstat statt. Vielmehr ist die Rache eine Antwort auf die Anfangstat. Die Rache bezieht sich auf die Anfangstat.

Ich stelle mir vor, Tarek schmiert Orhans Sattel um 23 Uhr mit Hundedreck ein. Orhan weiß davon aber noch nichts. Orhan schleicht sich um 24 Uhr aus dem Haus und schneidet Tareks Bremskabel durch.

In diesem Fall liegt Orhans Bremskabelschneiderei zeitlich nach Tareks Sattelschmiererei. In diesem Fall liegt aber keine Rache vor, weil Tarek und Orhan völlig unabhängig voneinander handeln. Zur Rache gehört, dass die Rachetat eine Antwort auf die Anfangstat sein muss.

Wenn der Vater fragt: „Orhan, warum hast Du die Bremskabel von Tareks Fahrrad zerschnitten?“, dann müsste Orhan im Falle einer Rachetat antworten: „Ich habe Tareks Bremskabel zerschnitten, weil Orhan meinen Sattel mit Hundekot beschmiert hat.“

Satz 4: Die Anfangstat weist fünf Eigenschaften auf:

Eigenschaft 1: Die Anfangstat ist schlecht, böse, schädlich. Durch die Anfangstat des Täters wird dem Opfer ein Übel zugefügt: Orhans Sattel ist unbrauchbar. Orhan ekelt sich schrecklich, weil seine Hose voll Hundekot ist.

Eigenschaft 2: Die Anfangstat ist ganz und gar gegen den Willen des Opfers der Anfangstat. Natürlich will Orhan nicht, dass sein Sattel mit Hundekot beschmiert wird.

Eigenschaft 3: Das Opfer der Anfangstat kann nichts gegen die Anfangstat tun. Das Opfer der Anfangstat ist ohnmächtig. Orhan schlief, als Tarek den Sattel beschmierte.

Eigenschaft 4: Die Anfangstat ist dem Täter der Anfangstat zuzurechnen. Der Täter der Anfangstat ist verantwortlich für die Anfangstat. Um das zu erklären, verändere ich das Beispiel so, dass Tarek für den Schaden eben nicht verantwortlich ist:

Ich stelle mir vor, Orhans Rad steht unter einem Regal. Aus Versehen stößt Tarek eine Flasche mit gebrauchtem Motoröl um und merkt das nicht. Der Deckel der Motorölflasche ist nicht dicht. Das schwarze Öl läuft über Orhans Sattel und verdirbt das Leder des Sattels. Orhan wird sich nicht an Tarek rächen, solange Orhan glaubt, dass Tarek nichts dafür kann.

Eigenschaft 5: Der Täter der Anfangstat ist nicht berechtigt, die Anfangstat auszuführen. Orhan ist faul und lernt nicht. So gibt die Englischlehrerin Orhan eine Fünf und auch die Mathematiklehrerin gibt Orhan eine Fünf. Orhan bleibt sitzen. Das ist ein Übel. Orhan aber weiß, dass die Noten berechtigt sind. Also wird Orhan sich nicht rächen. An seinem Sportlehrer hingegen will Orhan sich rächen. Der Sportlehrer ist besonders fies zu Orhan und gibt Orhan eine Vier in Sport. Das ist völlig ungerecht.

Die Anfangstat ist mithin eine freiwillige Handlung (Eigenschaft 4) des Täters der Anfangstat, die dem Opfer der Anfangstat schadet (Eigenschaft 1) und gegen den Willen des Opfers der Anfangstat ist (Eigenschaft 2), ohne dass das Opfer der Anfangstat sich gegen die Anfangstat wehren kann (Eigenschaft 3). Und schließlich hat der Täter der Anfangstat kein Recht, die Anfangstat auszuführen (Eigenschaft 5).

Satz 5: Nach der Anfangstat überlegt das Opfer der Anfangstat, wie es sich rächen will. Deshalb liegt zwischen der Anfangstat und der Rache oft auch eine gewisse Zeit. Die Zeit zwischen der Anfangstat und der Rache kann mehr oder weniger lang sein. Das hängt davon ab, wie lange das Opfer der Anfangstat überlegt; das hängt aber auch davon ab, wie schnell sich eine passende Gelegenheit zur Rache bietet.

Satz 6: Wer sich rächt, muss sich erinnern. Das Opfer der Anfangstat darf das, was der Täter der Anfangstat getan hat, nicht vergessen.

Satz 7: Die Rache selbst ist ebenfalls wieder ein Übel. Orhan schädigt Tarek. Das Opfer der Anfangstat fügt nun dem Täter der Anfangstat ein Übel zu. Und auch das Opfer der Anfangstat handelt nicht aus Versehen, sondern in voller Absicht.

Satz 8: Bei der Rache geht es dem Opfer der Anfangstat eigentlich und im Kern darum, dem Täter der Anfangstat einen Schaden zuzufügen. Alles andere ist nebensächlich. Die Schädigung des Täters der Anfangstat ist das Kernziel der Rache.

Satz 9: Zumeist wird die Rache von Gefühlen begleitet. Orhan ist wütend auf Tarek, weil Tarek Orhans Sattel mit Hundekot beschmiert hat. Vielleicht hasst Orhan Tarek sogar richtig. Orhan ist traurig, weil sein schöner Ledersattel nicht mehr zu gebrauchen ist. Sich auszumalen, wie er, Orhan, sich an Tarek rächen wird, bereitet Orhan Freude und Lust.

Satz 10: Dem Opfer der Anfangstat darf nicht alles gleichgültig sein. Das Opfer rächt sich, weil etwas, was dem Opfer der Anfangstat wichtig und wertvoll ist, beschädigt wurde.

Satz 11: Das Opfer der Anfangstat muss Verstand besitzen, um die Rache zu planen. Wesen, die keinen Verstand haben, können sich nicht rächen.

Schritt 2: Von welchen Verhaltensweisen ist die Rache abzugrenzen?

Abgrenzung 1: Die Rache ist von der Schadensabwehr abzugrenzen. Wer sich rächt, verteidigt sich nicht. Wer sich verteidigt, schützt nämlich ein Gut vor einem Angriff, bevor das Gut beschädigt oder zerstört ist: Orhan sieht, wie Tarek anfangen will, Orhans Ledersattel zu beschmieren. Orhan nimmt einen Stock und schlägt Tarek die Dose mit dem Hundedreck aus der Hand. In diesem Fall verteidigt sich Orhan. Im Fall der Rache hingegen ist das Gut bereits beschädigt. Die Rache kommt nach der Beschädigung. Um den Schaden abzuwehren, kommt die Rache zu spät.

Abgrenzung 2: Die Rache ist vom unmittelbaren, unüberlegten Gegenschlag abzugrenzen. Armin beschimpft Leander: „Du Hurensohn!“ Sofort bricht Leander Armin die Nase. Die Rache hingegen erfolgt nicht sofort. Die Rache wird geplant: Armin beschimpft Leanders Mutter als Hure. Einige Wochen später schüttet Leander Armin Säure ins Gesicht.

Abgrenzung 3: Die Rache ist von der Feindesliebe abzugrenzen. Tarek schmiert Orhans Sattel ein. Das ist die Anfangstat. Orhan zertrennt Tareks Bremskabel. Das ist die Antworttat. Rache antwortet auf Böses mit Bösem. Wer auf Böses mit Gutem antwortet, rächt sich nicht. Auf Böses mit Gutem zu antworten, ist von der Rache abzugrenzen. Ein Antwortverhalten, bei dem Böses mit Gutem vergolten wird, bezeichne ich als Feindesliebe.

Hier ist ein Beispiel, in dem sich das Opfer einer Anfangstat für eine böse Tat nicht rächt, sondern dem Täter der Anfangstat etwas Gutes tut: Gloria Sonnenschein ist vom Glück verwöhnt. Marie Pech hingegen ist vom Unglück verfolgt. Das war schon immer so. Die beiden kennen sich seit ihrer Schulzeit. Als Gloria Sonnenschein im Lotto vier Millionen Euro gewinnt, kauft Gloria Sonnenschein sich zunächst eine Villa im hübschesten Viertel der Stadt. Kurze Zeit später steht ein Porsche in Indischrot mit Ledersitzen vor der Garage. Das ist zu viel für Marie Pech. Nachts bricht Marie Pech einen Außenspiegel des Porsche ab. Zufällig sieht Gloria das. Doch sie ist nicht ärgerlich auf Marie Pech. Gloria hat vielmehr Mitleid mit ihrer alten Freundin Marie. Gloria schenkt Marie einen Mazda3. Marie ist beschämt und glücklich.

Abgrenzung 4: Rache ist von der Wiedergutmachung abzugrenzen. Rache macht den Schaden nicht wieder gut. Tarek beschmiert Orhans Sattel mit Hundedreck. Daraufhin nimmt Orhan Tarek dessen Sattel weg und schraubt ihn auf sein eigenes Fahrrad. Oder Orhan stiehlt 200 € von Tarek und kauft sich einen Ersatzsattel. In diesen Fällen spreche ich nicht von Rache. Meist lässt sich der Schaden, den der Täter der Anfangstat dem Opfer der Anfangstat zufügt, so oder so nicht wieder gutmachen. Und gerade in solchen Fällen, in denen der Schaden nicht wieder gutgemacht werden kann, rächt sich das Opfer der Anfangstat.

Abgrenzung 5: Rache ist von der Strafe abzugrenzen. Die Rache ist die Antworttat des Opfers der Anfangstat auf die Anfangstat des Täters. Bei der Rache gibt es nur zwei Personen: den Täter der Anfangstat (Person 1) und das Opfer der Anfangstat (Person 2). Beide, Täter und Opfer der Anfangstat, stehen auf einer Ebene. Bei der Strafe hingegen gibt es drei Personen: den Täter (Person 1), das Opfer (Person 2) und den Richter (Person 3). Dabei steht der Richter über dem Täter und dem Opfer: Orhan zeigt Tarek wegen Sachbeschädigung an. Die Richterin verurteilt Tarek zu 20 Sozialstunden.

Abgrenzung 6: Die Rache ist von der Sühne oder Buße abzugrenzen. Um das zu erklären, gebe ich ein anderes Beispiel:

Jupp ist 85 Jahre alt. Jupp fährt einen Porsche. Manchmal fährt er seinen Porsche sogar, nachdem er in der Kneipe mit seinen Freunden ein paar Bier getrunken hat. Jupps Kinder haben ihm oft gesagt: „Vater, du solltest den Führerschein abgeben!“ Jupps Freunde haben ihm oft gesagt: „Jupp, nimm besser ein Taxi! Du hattest fünf Bier!“ Aber Reden nutzt bei Jupp nichts. Jupp hat ein sonniges Gemüt. Sein Grundsatz ist: Es ist noch immer gut gegangen! Eines Nachts fährt er wieder nach fünf Bier mit seinem Porsche heim.

Zu spät sieht Jupp, wie eine Frau auf einem Zebrastreifen die Straße überquert. Die Frau ist Kathi Blum. Kathi Blum ist Krankenschwester und kommt gerade von der Spätschicht. Jupp überfährt Kathi Blum. Kathi Blum überlebt. Kathi Blum ist seit dem Unfall querschnittsgelähmt. Außerdem war Kathi Blum schwanger und hatte durch den Unfall eine Fehlgeburt. Jupp kann sich das nicht verzeihen. Vor Verzweiflung springt er in den Rhein und ertrinkt.

Jupp fügt sich selbst einen Schaden zu. Er tötet sich. Das ist keine Rache. Rache geht von einem anderen aus. Bei der Rache wird das Opfer der Anfangstat tätig. So könnte Kathi Blum sich eine Pistole besorgen und Jupp ins Rückenmark schießen, so dass auch Jupp querschnittsgelähmt ist.

Schritt 3: Welche Arten der Rache lassen sich unterscheiden?

Unterscheidung 1: Es gibt die Rache (1.1) im Kleinen und die Rache (1.2) im Großen. (1.1) Orhans Rache ist eine Rache im Kleinen. (1.2) Kathi Blums Rache, Jupp ins Rückenmark zu schießen, ist eine Rache im Großen.

Unterscheidung 2: Es gibt Rache, die (2.1) verhältnismäßig ist, und es gibt Rache, die (2.2) unverhältnismäßig ist. (2.1) Verhältnismäßig ist eine Rache, bei der die Anfangstat und die Rachetat etwa gleich schlimm sind: Tarek beschmiert Orhans Sattel mit Rübenkraut. Orhan beschmiert Tareks Sattel mit Honig. Das ist verhältnismäßig. (2.2) Unverhältnismäßig ist eine Rache, bei der die Anfangstat und die Rachetat nicht gleich schlimm sind. Dabei kann (2.2.1) die Rachetat schlimmer sein als die Anfangstat: Tarek beschmiert Orhans Sattel mit Rübenkraut. Orhan vergiftet Tareks Hund und wirft Tareks Fahrrad in den Rhein. Oder: Leander knutscht mit Jacqueline. Jacquelines Freund Torben erfährt das. Torben und seine Bande schlagen Leander aus Rache zusammen. Nun sitzt Leander im Rollstuhl. Dabei kann (2.2.2) die Rachetat weniger schlimm sein als die Anfangstat: Tarek wirft Orhans Fahrrad in den Rhein. Orhan schmiert Honig auf Tareks Lenkergriffe.

Unterscheidung 3: Das Kernziel der Rache ist, dem Täter zu schaden.  Es gibt (3.1) Rache, die über dieses Ziel hinaus noch weitere Ziele verfolgt. Es gibt (3.2) Rache, die kein weiteres Ziel verfolgt.

Über die Schadenszufügung hinaus hat Rache oft diese weiteren Zusatzziele:

Zusatzziel 1 ist die Abschreckung: Die Rächerin will andere abschrecken. Armin legt heimlich auf Marlenes Pausenbrot ein Kondom. Marlene übergibt sich vor Ekel. Einige Tage später zündet Marlene Armins Opel Manta an. Mit ihrer Rache will Marlene erreichen, dass Armin sie selbst, Marlene, nicht mehr belästigt. Mit ihrer Rache will Marlene erreichen, dass Armin andere nicht mehr belästigt. Mit ihrer Rache will Marlene erreichen, dass andere Männer weder sie, Marlene, noch andere Frauen belästigen.

Zusatzziel 2 ist die Verhinderung: Die Rächerin will verhindern, dass der Täter noch einmal zuschlägt. Egon vergewaltigt Katrin. Vor Gericht wird Egon freigesprochen. Katrins Freundin Laura ist Ärztin. Eines Abends verkleidet sich Laura: Perücke, farbige Kontaktlinsen, dicke Schminke. In einer Hotelbar spricht Laura Egon an. Laura lockt Egon in ein Hotelzimmer. Sie tut so, als wolle sie mit Egon schlafen. Im Hotelzimmer mischt Laura Egon ein Betäubungsmittel in den Wein. Als Egon aufwacht, ist Egon gefesselt und geknebelt. Vor ihm stehen zwei maskierte Frauen: Katrin und Laura. Laura schneidet nun Egon mit einem Skalpell den Hoden und den Penis ab und versorgt die Wunde. Danach verschwinden Laura und Katrin. Sie rufen später im Hotel an: „Auf Zimmer 334 liegt eine verwundete Person.“ Egon wird nun keine Frau mehr vergewaltigen. Das haben Katrin und Laura verhindert.

Zusatzziel 3 ist die Selbstermächtigung: Das Opfer der Anfangstat kann sich gegen die Anfangstat nicht wehren. Das Opfer der Anfangstat empfindet sich als ohnmächtig. Indem das Opfer der Anfangstat sich rächt, gewinnt es Macht zurück.

Zusatzziel 4 ist die Gerechtigkeit: Einem Bösewicht geht es gut. Das ist empörend. Das ist nicht gerecht. Das darf so nicht sein. Wer einem Bösewicht schadet, sorgt somit für Gerechtigkeit. Den Bösen soll es schlecht gehen. Den Guten soll es gut gehen.

Zusatzziel 5 ist der Gewinn: Rache ist zwar von der Wiedergutmachung abzugrenzen. Bisweilen folgt aber aus der Rache ein Gewinn für die Rächerin. Thomas ist ein widerlicher Angeber. Über andere macht Thomas sich lustig. Thomas redet ohne Pause und hört nicht zu. Abends treffen sich Thomas, Heike, Ursula und Simon in einem teuren Restaurant. Thomas redet wieder ununterbrochen. Thomas erklärt den anderen die Welt. Insbesondere Heike kommt kaum zu Wort. Und wenn Heike einmal etwas sagt, dann macht Thomas sich darüber lustig. Ursula und Simon gehen etwas früher, weil sie Thomas nicht mehr ertragen. Heike muss nun alleine Thomas‘ Gerede aushalten. Als Thomas kurz auf die Toilette muss, holt Heike heimlich Thomas‘ Portemonnaie aus seiner Jacke und nimmt 300 € an sich. Damit will sie sich dafür rächen, dass Thomas zu ihr immer so hässlich und verächtlich ist. Als Thomas wieder an den Tisch kommt, sagt er nur schnell „Tschüss“, lässt Heike sitzen und setzt sich neben eine junge, blonde Frau an die Theke. Heike zahlt ihre Rechnung und geht.

Einige Tage später lädt Heike Simon und Ursula von den 300 €, die Heike Thomas gestohlen hat. zum Essen sein. Es ist ein wunderbarer Abend, an dem sie viel über Thomas lästern.

All diese Zusatzziele dürfen aber nicht der eigentliche Beweggrund sein, sonst ist es keine Rache. Ob Rache vorliegt oder nicht, lässt sich mit einer Testfrage prüfen. So könnte ich Heike fragen: „Heike, würdest du auch dann Thomas einen Schaden zugefügt haben, wenn du keinen Gewinn davon gehabt hättest?“ Heike könnte sagen: „Ja, auch ohne Gewinn hätte ich Thomas geschadet. Hauptsache: Thomas geht es schlecht! Ich hätte auch Thomas‘ Kreditkarte zerschneiden können.“ Hier liegt Rache vor. Heike könnte aber auch sagen: „Nein, mir kam es schon auf die 300 € an.“ Hier liegt keine Rache vor. Allgemein lautet die Testfrage: „Würdest du auch dann dem Anfangstäter einen Schaden zugefügt haben, wenn deine Tat außer dem Schaden für den Anfangstäter keine weitere Wirkung hätte?“ Damit Rache vorliegt, muss diese Testfrage mit Ja beantwortet werden.

Unterscheidung 4: In der Regel gibt es bei der Rache nur zwei Personen: Orhan rächt sich an Tarek dafür, dass Tarek Orhans Sattel beschmiert hat. Der Täter der Anfangstat schädigt zunächst das Opfer der Anfangstat. Dann wird das Opfer der Anfangstat zum Täter und schädigt den Täter der Anfangstat, der nun seinerseits zum Opfer der Rachetat wird. Manchmal aber ist das nicht so einfach. Ich kann nämlich eine doppelte Feinunterscheidung vornehmen:

Feinunterscheidung 4.1: Manchmal (i) schädigt der Täter der Anfangstat das Opfer der Anfangstat selbst. Der Täter der Anfangstat schädigt das Opfer der Anfangstat unmittelbar. Manchmal (ii) schädigt der Täter der Anfangstat eine Person, mit der das Opfer der Anfangstat verbunden ist. Der Täter der Anfangstat schädigt das Opfer der Anfangstat mittelbar.

Feinunterscheidung 4.2: Daraufhin rächt sich das Opfer der Anfangstat manchmal (a) unmittelbar am Täter der Anfangstat. Manchmal rächt sich das Opfer der Anfangstat (b) an einer Person, die mit dem Täter der Anfangstat verbunden ist. Manchmal rächt sich das Opfer der Anfangstat (c) an einer Person, die dem Täter der Anfangstat ähnlich ist.

Ich verbinde nun Feinunterscheidung 4.1 mit Feinunterscheidung 4.2 und erhalte so sechs Fälle:

Fall 1: Der Täter der Anfangstat schädigt das Opfer der Anfangstat unmittelbar und das Opfer der Anfangstat rächt sich unmittelbar am Täter der Anfangstat. Egon vergewaltigt Else. Else besorgt sich einen Revolver und erschießt Egon.

Fall 2: Der Täter der Anfangstat schädigt das Opfer der Anfangstat unmittelbar und das Opfer der Anfangstat schädigt eine Person, die mit dem Täter der Anfangstat verbunden ist. Egon vergewaltigt Else. Else besorgt sich einen Revolver und erschießt Egons Tochter.

Fall 3: Der Täter der Anfangstat schädigt das Opfer der Anfangstat unmittelbar und das Opfer der Anfangstat schädigt eine Person, die dem Täter der Anfangstat ähnlich ist. Else wird von einem Unbekannten vergewaltigt. Else besorgt sich einen Revolver. Im Minirock geht sie nun nachts durch die übelsten Ecken der Stadt. Sobald ein Mann sie gierig angafft oder gar anspricht, erschießt sie den Mann.

Fall 4: Der Täter der Anfangstat schädigt eine Person, die mit dem Opfer der Anfangstat verbunden ist, und das Opfer der Anfangstat rächt sich unmittelbar am Täter der Anfangstat. Egon vergewaltigt Elses Tochter. Else besorgt sich einen Revolver und erschießt Egon.

Fall 5: Der Täter der Anfangstat schädigt eine Person, die mit dem Opfer der Anfangstat verbunden ist und das Opfer der Anfangstat schädigt eine Person, die mit dem Täter der Anfangstat verbunden ist. Egon vergewaltigt Elses Tochter. Else besorgt sich einen Revolver und erschießt Egons Tochter.

Fall 6: Der Täter der Anfangstat schädigt eine Person, die mit dem Opfer der Anfangstat verbunden ist, und das Opfer der Anfangstat schädigt eine Person, die dem Täter der Anfangstat ähnlich ist. Ein unbekannter Mann vergewaltigt Elses Tochter. Else besorgt sich einen Revolver. Im Minirock geht sie nun nachts durch die übelsten Ecken der Stadt. Sobald ein Mann sie gierig angafft oder gar anspricht, erschießt sie den Mann.

Was Rache ist, verdeutliche ich abschließend mit einer kleinen, allgemeinen Geschichte. Rachegeschichten haben nämlich immer diese Form. Ich nenne solche Geschichten deshalb Formgeschichten. Die Formgeschichte zur Rache geht so:

Die Geschichte beginnt mit der Anfangstat des Täters. Die Anfangstat ist dem Täter zuzurechnen. Der Täter ist für die Anfangstat verantwortlich. Die Anfangstat des Täters ist für das Opfer schlecht und geschieht gegen dessen Willen. Der Täter fügt dem Opfer durch die Anfangstat einen Schaden zu. Die Anfangstat ist eine Schädigung des Opfers. Der Täter ist nicht berechtigt, dem Opfer einen Schaden zuzufügen. Das Opfer nun überlegt, wie es den Täter umgekehrt schädigen kann. Um zu überlegen, wie es dem Täter schaden kann, braucht das Opfer Zeit. Während dieser Zeit vergisst das Opfer keineswegs, was der Täter ihm angetan hat. Und oft malt sich das Opfer während dieser Zeit mit Lust und Freude aus, wie es sich am Täter rächen wird, wie das Opfer nun seinerseits dem Täter ein Übel zufügen wird. Bei nächster Gelegenheit wird das Opfer der Anfangstat selbst zum Täter einer Rachetat und fügt dem Täter der Anfangstat ein Übel zu. Dabei schädigt das Opfer den Anfangstäter nicht einfach so. Das Opfer der Anfangstat fügt dem Täter der Anfangstat genau deshalb einen Schaden zu, weil der Täter der Anfangstat dem Opfer der Anfangstat vorher einen Schaden zugefügt hat.

Die Wörter, die ich kursiv geschrieben habe, sind Platzhalter. Ich kann jede besondere Rachegeschichte in die Form dieser allgemeinen Geschichte nacherzählen. Dazu muss ich nur die Platzhalter ausfüllen. Für das Beispiel von Tarek und Orhan wären die Platzhalter so zu ersetzen: Tarek ist der Täter; Orhan ist das Opfer; die Anfangstat besteht darin, dass Tarek Orhans Sattel beschmiert; das Übel, das Orhan später Tarek zufügt, ist: Orhan zerschneidet Tareks Bremskabel.

Fragen

  1. Satz 8 über die Rache lautet: Bei der Rache geht es dem Opfer der Anfangstat eigentlich und im Kern darum, dem Täter der Anfangstat einen Schaden zuzufügen. Alles andere ist nebensächlich. Satz 8 habe ich nicht begründet. Ich versuche nun Satz 8 zu begründen:

    Ich versetze mich ins Jahr 2135, also in die Zukunft: Joseph wird nach einer Party von Ruben, Simon und Levi vergewaltigt. Blutend lassen die Vergewaltiger Joseph zwischen Mülltonnen liegen.

    Joseph will sich rächen. Josephs Schwester Dina aber geht zur Polizei und zeigt Ruben, Simon und Levi an. Die drei werden gefasst. Im Jahr 2135 gibt es keine Strafen mehr. Straftäter werden vielmehr mit sehr wirksamen Medikamenten gebessert. Nach außen allerdings wird so getan, als gäbe es noch Strafen. Dazu fälscht die Polizei Filme, die zur wirksamen Abschreckung ins Netz gestellt werden. Ruben, Simon und Levi bekommen also Medikamente. Alle vier Monate müssen sie zum Arzt. Der Arzt spritzt ihnen ein Mittel mit dem Namen Buserelin unter die Haut. Durch diese Medikamente werden sie gebessert. Brav wie die Lämmer werden sie nie wieder etwas Schlimmes tun. Gleichzeitig fälscht die Polizei einen Film. Der gefälschte Film zeigt, wie der Henker Ruben, Levi und Simon mit glühenden Zangen die Hoden abkneift und ihnen dann bei lebendigem Leib die Haut abzieht. Dieser Film wird ins Netz gestellt. Ruben, Levi und Simon bekommen neue Namen und können weit entfernt in einer anderen Stadt ein neues Leben anfangen. Joseph erhält vom Staat ein Schadensgeld: 100.000 €.

    Josephs Rachewunsch aber kommt nicht zur Ruhe, weil er weiß, dass die Vergewaltiger in Wahrheit ungeschoren davongekommen sind. Es beruhigt Joseph nicht, dass die Vergewaltiger nun harmlos sind. Das Geld tröstet Joseph nicht. Und auch die Abschreckung durch den gefälschten Film ist für Joseph wertlos.

    Der Rachewunsch kommt erst zur Ruhe, nachdem den Vergewaltigern ein schmerzhaftes Übel zugefügt wird. Das ist es, was Satz 8 meint. Wenn Satz 8 nicht wahr wäre, dann müsste Joseph doch zufrieden sein. Immerhin sind die Vergewaltiger unschädlich, weil sie Buserelin bekommen; immerhin sind andere durch den grausamen Film abgeschreckt; immerhin ist Joseph nun reich. Aber Joseph ist trotz allem nicht zufrieden. Also ist Satz 8 wahr.

    Überzeugt dich meine Begründung für Satz 8? Hältst du Satz 8 für wahr?

  2. Mit Frage 1 hängt Frage 2 zusammen: Wieso will Joseph eigentlich, dass seine Vergewaltiger leiden? Wieso schneidet Laura Egon den Hoden ab? Wieso fackelt Marlene Armins Opel Manta ab? Wieso schneidet Orhan Tareks Bremskabel durch? Sie alle haben dadurch doch keinen Gewinn. Der Schaden, den sie erlitten haben, wird dadurch doch nicht mehr geheilt. Im Gegenteil: Kathi Blum muss ins Gefängnis, weil sie Jupp ins Rückenmark schießt. Was also treibt Menschen so mächtig an, sich zu rächen?

    Frage 3: Wer sich rächen will, glaubt: Nachdem ich mich gerächt habe, geht es mir gut oder wenigstens besser. Stimmt das? Geht es einem Rächer, einer Rächerin besser, nachdem er oder sie sich gerächt hat? Führt Rache tatsächlich immer zur Befriedigung und Genugtuung? Oder führt Rache manchmal zur Befriedigung und Genugtuung? Oder führt Rache nie zur Befriedigung oder Genugtuung?

  3. Neid und Schadenfreude einerseits und Rache andererseits ähneln sich. Eine neidische und schadenfrohe Person will, dass es anderen schlechter geht. Sie freut sich, sobald andere ein Gut verlieren oder anderen etwas Übles passiert. Manchmal fügt die neidische Person der beneideten Person tatsächlich einen Schaden zu. Dabei gewinnt die neidische oder schadenfrohe Person tatsächlich nichts. Rudaba ist neidisch, weil Leyla neue Boxhandschuhe aus echtem Leder bekommen hat. Eines Tages zerschneidet Rudaba heimlich Leylas teure Boxhandschuhe, als Leyla unter der Dusche ist. Dadurch hat Rudaba nichts gewonnen. Nur Leyla hat etwas verloren. Leylas Boxhandschuhe sind kaputt. Und auch die Rache führt doch nur dazu, dass es der Person, an der Rache genommen wird, nachher schlechter geht. Der Rächer gewinnt tatsächlich nichts. Tarek beschmiert Orhans Sattel. Orhan schneidet Tareks Bremskabel aus Rache durch. Dadurch geht es Tarek zwar schlechter. Aber dadurch ist Orhans Sattel nicht wieder benutzbar. Vielmehr geht es nun beiden, Orhan und Tarek, schlecht.

    Rache und Neid machen die Welt um nichts besser. Sie machen die Welt schlechter. Sie erzeugen eine Gleichheit im Schlechten.

    Überzeugt diese Überlegung? Ähneln sich Schadenfreude und Neid einerseits und Rache andererseits?

  4. Tarek beschmiert Orhans Sattel mit Hundedreck. (a) Bevor Orhan sich rächt, verursacht Tarek mit seinem Fahrrad einen Unfall. Tareks Fahrrad ist Schrott. Tareks Nase und sein Schlüsselbein sind gebrochen. Was fühlt Orhan? (b) Oder: Egon betrügt Else immer wieder. Eines Tages stellt der Arzt fest: Egons Vorsteherdrüse ist von Krebs befallen. Was fühlt Else? (c) Oder: Der Weiberheld Egon wird von Jupp, dem Zuhälter, krankenhausreif geprügelt. Das kam so: In einer Bar hatte Egon die blonde Yvonne angesprochen und ihr den Arm um die Hüfte gelegt. Plötzlich taucht Jupp der Zuhälter auf und sieht, wie Egon Yvonne begrapscht. Jupp sieht rot und schlägt zu. Was fühlt Else jetzt? (a) Was fühlen Opfer dann, wenn der Täter sich selbst ein Übel zuzieht? (b) Was fühlen Opfer dann, wenn das Schicksal dem Täter ein Übel zufügt? (c) Was fühlen Opfer dann, wenn ein Dritter dem Täter ein Übel zufügt?

  5. Rache ist ein Antwortverhalten: Der Täter schädigt mit seiner Anfangstat das Opfer. Das Opfer der Anfangstat schädigt mit seiner Antworttat den Täter der Anfangstat. Nun ist auch die Dankbarkeit ein Antwortverhalten: Kirsten hilft Jana beim Umzug. Später lädt Jana Kirsten zum edlen Essen ein. Die Wohltäterin tut der Wohltatempfängerin im ersten Schritt etwas Gutes. Später tut die Wohltatempfängerin der Wohltäterin im zweiten Schritt etwas Gutes. Was haben Dankbarkeit und Rache gemeinsam? Was unterscheidet Dankbarkeit und Rache?

  6. Ich habe fünf Eigenschaften der Anfangstat des Täters aufgelistet: (i) Die Anfangstat des Täters der Anfangstat ist schädlich fürs Opfer der Anfangstat; (ii) die Anfangstat des Täters geschieht gegen den Willen des Opfers der Anfangstat; (iii) die Anfangstat des Täters trifft das Opfer der Anfangstat so, dass das Opfer der Anfangstat dagegen ohnmächtig ist; (iv) die Anfangstat ist dem Täter zuzurechnen; (v) der Täter der Anfangstat ist nicht berechtigt, dem Opfer der Anfangstat den Schaden zuzufügen. Ich bin mir unsicher, ob ich nicht eine sechste Eigenschaft der Anfangstat vergessen habe: (vi) Geringschätzung. Wir wollen uns insbesondere dann rächen, wenn andere uns mit Geringschätzung, mit Verachtung begegnen. Wir wollen uns insbesondere dann für eine Anfangstat rächen, wenn der Täter mit seiner Anfangstat zum Ausdruck bringt: „Du bist mir gleichgültig! Ich verachte dich! Du bist nichts wert! Bei meinen Entscheidungen überlege ich nicht, welchen Einfluss mein Verhalten für dich hat! Du kommst in meiner Rechnung nicht vor! Im Gegenteil: Mir macht es Spaß und ich finde es witzig, dir Steine in den Weg zu legen! Über dich mache ich mich höchstens lustig!“

  7. Es gibt angeblich Gesellschaften, in denen genau festgelegt ist, wer sich wann, wie, für wen und an wem zu rächen hat. Manche sagen, in solchen Gesellschaften herrsche eine rächende Gerechtigkeit. Es gibt in diesen Gesellschaften keine Gerichte. Möchtest du in einer solchen Gesellschaft leben?

  8. Kann ich mich an Tieren rächen?

  9. Können Tiere sich rächen?

  10. Es gibt rachsüchtige Menschen und es gibt Menschen, die nicht dazu neigen, sich zu rächen. Wieso werden Menschen rachsüchtig?

  11. Wie steht es um die Sichtbarkeit der Rache? Manchmal will der Rächer, dass es Zuschauer für seine Rache gibt. Manchmal will der Rächer im Verborgenen handeln. Der Rächer will nicht, dass es Zuschauer gibt. Wieso suchen manche Rächer die Öffentlichkeit und wieso meiden manche Rächer die Öffentlichkeit?

  12. Ich grenze Strafe von Rache ab. Bei der Rache gibt es nur zwei Personen: den Täter der Anfangstat (Person 1) und das Opfer der Anfangstat, den Rächer (Person 2). Das Opfer (Person 2) rächt sich am Täter (Person 1). Für die Strafe hingegen braucht es drei Personen: den Täter (Person 1), das Opfer (Person 2), und den Richter (Person 3).

    Nun könnte jemand behaupten: Strafe und Rache sind nicht wesentlich unterschieden. Die Rache ist vielmehr eine Art der Strafe. Die Rache ist nämlich eine Strafe, bei der Opfer (Person 2) und Richter (Person 3) nur zufällig ein und dieselbe Person sind (Person 2 = Person 3). Was hältst Du von dieser Überlegung?

  13. Manche sagen, die Rache unterscheidet sich von der Strafe, weil die Rache von Gefühlen begleitet ist; die Strafe hingegen ist nicht von Gefühlen begleitet. Stimmt das?

  14. Jupp hasst Egon, weil Egon reicher und schöner ist als Jupp. Jupp sucht einen Vorwand, Egon etwas Schlimmes anzutun. Jupp ist mit Jacqueline zusammen, aber im Grunde hat Jupp keine Lust mehr auf Jacqueline. Jupp ist nämlich heimlich in Yvonne verliebt. Auf einer Feier knutschen Jacqueline und Egon. Nun endlich hat Jupp einen Vorwand, sich an Egon zu rächen. Jupp bricht die Spiegel von Egons Opel Manta ab und macht einen Kratzer in den Lack. Überall sagt er: „Das ist die Rache dafür, dass Egon mit Jacqueline geknutscht hat!“

    Ist solche Vorwandrache echte Rache?

  15. Es gibt drei Fälle: (i) Manchmal steht der Täter der Anfangstat über dem Opfer der Anfangstat. (ii) Manchmal stehen der Täter der Anfangstat und das Opfer der Anfangstat auf einer Stufe. (iii) Manchmal steht der Täter der Anfangstat unter dem Opfer der Anfangstat. Was bedeutet das für die Rache des Opfers der Anfangstat? (i) Wie räche ich mich an einem Täter, der über mir steht? (ii) Wie räche ich mich an einem Täter, der auf einer Stufe mit mir steht? (iii) Wie räche ich mich an einem Täter, der unter mir steht?

  16. Orhan rächt sich an Tarek. Orhan schneidet aus Rache Tareks Bremskabel durch. Manche behaupten nun: Damit das auch eine richtige Rache ist, muss Tarek, der Täter der Anfangstat und Opfer der Rachetat ist, drei Dinge wissen: (I) Tarek muss sehen und wissen, dass die Bremskabel durchgeschnitten sind. (II) Tarek muss wissen, wer die Bremskabel durchgeschnitten hat, nämlich Orhan. (III) Tarek muss wissen, wieso Orhan die Bremskabel durchgeschnitten hat. Orhan hat die Bremskabel nämlich deshalb durchgeschnitten, weil Tarek vorher Orhans Sattel mit Hundedreck beschmiert hat. Ich nenne das die Wissensbehauptung. Allgemein besagt die Wissensbehauptung: Die Person, an der die Rache vollzogen wird, muss drei Dinge wissen: (I) Die Person muss wissen, dass ihr ein Schaden zugefügt worden ist. (II) Die Person muss wissen, wer ihr den Schaden zugefügt hat. (III) Die Person muss wissen, wieso ihr der Schaden zugefügt worden ist, nämlich aus Rache.

    Ich halte die Wissensbehauptung für falsch. Ich behaupte: Die Person, an der die Rache vollzogen wird, muss nicht wissen, (I) dass ihr ein Schaden zugefügt wurde; sie muss nicht wissen, (II) wer ihr einen Schaden zugefügt hat; sie muss nicht wissen, (III) wieso ihr ein Schaden zugefügt wurde. Ich nenne meine Behauptung die Unwissenheitsbehauptung.

    Ich unterscheide mithin drei Stufen der Unwissenheit:

    Stufe 1 nenne ich Tatsachenunwissenheit; Stufe 2 nenne ich Ursachenunwissenheit; Stufe 3 nenne ich Unwissenheit des Beweggrundes.

    Ich gebe nun für jede Stufe der Unwissenheit ein Beispiel.

    Stufe 1 (Tatsachenunwissenheit): Maxi ist stark und brutal. Wer nicht tut, was sie sagt, bekommt Prügel. Im Schullandheim hat Maxi zusammen mit Pauline Spüldienst. Aus reiner Bosheit zwingt Maxi Pauline, eine Tasse schmutziges Spülwasser zu trinken. Pauline muss sich übergeben. Maxi lacht darüber. Am nächsten Tag muss Maxi während des Mittagessens kurz zur Toilette. Pauline spuckt Maxi heimlich in Maxis Suppe. Maxi isst die Suppe auf und Pauline freut sich über ihre Rache. Maxi hingegen hat von nichts eine Ahnung. Maxi weiß nicht, (I) dass ihr ein Schaden zugefügt wird; Maxi weiß nicht (II) wer die Täterin ist; Maxi weiß nichts (III) über Paulines Beweggrund.

    Stufe 2 (Ursachenunwissenheit): Heinz Schob ist Sportlehrer und ein Ekel. Besonders auf den stillen Leander hat er es abgesehen. Wo immer er kann, lässt Heinz Schob Leander vorturnen, macht sich über Leander lustig. Weil Leander lange, blonde Haare hat, nennt Heinz Schob Leander immer nur „unser süßes Mädchen“. Eines Tages, nach der Schule, sind die Reifen an Heinz Schobs BMW zerstochen und der Lack ist zerkratzt. Heinz Schob weiß nicht, wer ihm das angetan hat. Heinz Schob weiß, (I) dass ihm ein Schaden zugefügt wurde; Heinz Schob weiß aber nicht, (II) wer ihm den Schaden zugefügt hat; und Heinz Schob weiß (III) nicht, aus welchem Beweggrund ihm dieser Schaden zugefügt wurde.

    Stufe 3 (Unwissenheit des Beweggrunds): Franziska weiß nicht, wer ihr Vater ist. Franziskas Mutter hat ihr das nie verraten. Nun ist Franziskas Mutter tot. Franziska räumt die Wohnung der Mutter leer. Franziska findet ein altes Tagebuch ihrer Mutter. Sie liest, dass ihre Mutter Dienstmädchen bei der Familie von Rotz  war. Der Sohn, Habbo von Rotz, hat Franziskas Mutter verführt, als die Mutter 16 Jahre alt war. Als Franziskas Mutter schwanger wurde, hat man ihr gekündigt. In bitterer Armut hat Franziskas Mutter Franziska alleine großgezogen. All das liest Franziska im alten Tagebuch ihrer Mutter. Nun endlich weiß Franziska, wer ihr Vater ist: Habbo von Rotz. Sie fängt an, nach ihrem Vater zu suchen. Franziska findet heraus, dass Habbo von Rotz nun als Anwalt arbeitet. Zufällig sucht Habbo von Rotz eine Rechtsanwaltsgehilfin. Franziska bewirbt sich. Sie bekommt die Stelle. An einem Freitagabend im Juli, sie haben lange gearbeitet, kommen sich Habbo und Franziska näher. Habbo von Rotz holt eine Flasche Dom Pérignon aus dem Kühlschrank und bestellt Sushi. Sie plaudern noch bis 11:30 Uhr. Dann geht Franziska nach Hause. In derselben Nacht klingelt um drei Uhr die Polizei bei Habbo. Er wird verhaftet. Er soll versucht haben, Franziska zu vergewaltigen. Franziska hat viele blaue Flecken und Spuren von Schlägen. Die hat sie sich selbst zugefügt. Vor Gericht aber schwört Franziska: „Die Verletzungen hat Habbo von Rotz mir zugefügt!“ Habbo von Rotz muss ins Gefängnis. Sein Leben ist zerstört. Immer wieder fragt Habbo von Rotz sich: „Warum hat Franziska mir das angetan?“

    Habbo von Rotz weiß, (I) dass ihm ein Schaden zugefügt wurde; Habbo von Rotz weiß auch, (II) wer ihm den Schaden zugefügt hat; aber Habbo von Rotz weiß (III) nicht, aus welchem Beweggrund ihm dieser Schaden zugefügt wurde.

    Ich behaupte: In allen drei Fällen liegt echte Rache vor. Habe ich recht? Oder ist die Wissensbehauptung wahr, dass die Person, an der die Rache verübt wird, wissen muss, (I) dass ihr ein Schaden zugefügt wurde, (II) wer ihr den Schaden zugefügt hat und (III) wieso? Was meinst du?

  17. Ich behaupte: Kein allmächtiges Wesen rächt sich. Ich beweise das so: Nur wer Opfer geworden ist, rächt sich. Kein allmächtiges Wesen wird zum Opfer. Also rächt sich kein allmächtiges Wesen.

    Ist mein Beweis tragfähig?

  18. Ich behaupte: Es ist nicht möglich, sich an einem allmächtigen Wesen zu rächen. Ich beweise das so: Nur an Wesen, die verletzlich sind, kann Rache genommen werden. Kein allmächtiges Wesen ist verletzlich. Also kann an keinem allmächtigen Wesen Rache genommen werden.

    Ist mein Beweis tragfähig?

  19. Das Opfer der Anfangstat, das ist der spätere Rächer, ist kein ohnmächtiges Wesen. Denn wer sich rächt, muss in der Lage sein, dem Täter der Anfangstat einen Schaden zuzufügen.

    Überzeugt dich diese Überlegung?

  20. Manche unterscheiden zwischen einer Rache, die vernünftig ist, und einer Rache die unvernünftig ist. Würdest Du auch diese Unterscheidung machen?

  21. Satz 9 zum Wesen der Rache lautet: Zumeist wird die Rache von Gefühlen begleitet. Satz 9 ist ungenau. Ich müsste zwischen drei Sorten von Rachegefühlen unterscheiden. Sorte 1 sind die Gefühle vor der Rache. Sorte 2 sind die Gefühle während der Rache. Sorte 3 sind die Gefühle nach der Rache. Welche Gefühle haben wir vor der Rache (Sorte 1), während der Rache (Sorte 2) und nach der Rache (Sorte 3)?

  22. Was ist der Unterschied zwischen Rache und Vergeltung?

  23. Orhan kann sich an Tarek rächen. Welche anderen Möglichkeiten, sich zu verhalten, hätte Orhan?

  24. Gilbert ist der Schwarm aller Mädchen. Doch mit wem ist der schöne Gilbert zusammen? Mit der schüchternen Bernadette! Bernadette, die Auserwählte, schwebt auf Wolke 7. Doch eines Tages erfährt Bernadette: Gilbert hat sie betrogen. In den zwei Jahren, in denen Gilbert mit Bernadette zusammen war, hat er mit Gaby, Jacqueline, Yvonne und Brunhilde regelmäßig geschlafen. Einen ganzen Harem hat Gilbert sich gehalten. Angegeben hat er damit vor allen. Wer allerdings keine Ahnung hatte, war Bernadette. Bernadette erzählt ihrer besten Freundin Jule unter Tränen: „Manchmal will ich mich an Gilbert rächen. Aber neben dem Rachewunsch ekel ich mich auch vor Gilbert. Und manchmal habe ich sogar Mitleid mit Gilbert.“ Hältst du es für möglich, dass Bernadette Rachegefühle, Mitleid und Ekel empfindet?

  25. Kann ich mich auch rächen, indem ich nichts tue? Kann ich mich durch eine Unterlassung rächen?

Quellen

In den Artikel über Rache sind Gedanken eingeflossen aus diesen Wer-ken:

Fabian Bernhardt, Rache, Berlin 2021: Matthes & Seitz;

Thomas von Aquin, STH, 108.

Zur Frage der Sichtbarkeit (Frage 11) findest du nützliche Hinweise in Fabian Bernhardts Buch (S. 594 ff.) Und es ist ebenfalls Fabian Bernhardt, der die Wissensbehauptung (S. 308) für wahr hält (vgl. Frage 16). Bern-hardt behauptet weiterhin, der Rächer mache in den Fällen 3 und 6 bei der Feinunterscheidung 4 einen handlungslogischen Fehler, indem der Rächer sich nicht am Täter rächt (S. 309). Bernhardt schließlich behaup-tet, dass es in einer Welt der Rache (vgl. Frage 7) so etwas wie Gerechtig-keit gibt (S. 177). Zur Behauptung, Rache diene der Gerechtigkeit, neigt auch Thomas von Aquin. Für Thomas von Aquin ist allerdings nur die Rache gerecht, welche ein wohltätiges Ziel verfolgt, etwa das Ziel, den Täter zu bessern oder den Täter von weiteren Übergriffen abzuhalten (STH, II/II, 108, 1, c.).
In Frage 6 überlege ich, ob wir uns nicht insbesondere für Anfangstaten rächen, aus denen eine Geringschätzung oder Verachtung spricht. Aris-toteles ist genau dieser Meinung: Die Geringschätzung des Täters ist ein wesentlicher Grund für den Rachewunsch des Opfers. Aristoteles be-gründet das so: Rache entspringt dem Gefühl des Ärgers. Ärger wiede-rum entsteht, sobald andere uns mit Geringschätzung begegnen (RHET, 1378 a 30 – 32). Also entspringt Rache über den Zwischenschritt des Är-gers aus der Geringschätzung, die andere uns entgegenbringen. Thomas von Aquin folgt Aristoteles hier (STH, I/II, 47, 2).
In Frage 20 überlege ich, ob es eine vernünftige und eine unvernünftige Rache gibt. Diese Unterscheidung macht Georg Walch in seinem Philoso-phischen Lexicon (1726) (Stichwort Rache).
Das Beispiel von Maxi und Pauline zur Tatsachenunwissenheit in Frage 16 verdanke ich Clara Günther (M. E.) und Till Struve (M. E.); ebenso stammt die Testfrage (vgl. Unterscheidung 3), ob wirklich Rache vorliegt, von Herrn Studienreferendar Till Struve und Frau Clara Günther.
Bedeutsame Anregungen insbesondere zu den Beispielen verdanke ich Frau Nina Grisard-Tounkaoui und Frau Studienassessorin Meltem Turan (M. E.).
Frau Dr. Anne Goebels hat durch vielfältige Hinweise zur Verbesserung des Artikels beigetragen.
Den Hinweis in Frage 1 auf das Mittel Buserelin, einem als GnRH-Analogon wirksames Mittel zur Absenkung des Testosteronspiegels, ver-danke ich Herrn Dr. med. Oliver Weber (Köln).
Das Beispiel von Else (Unterscheidung 4, Fälle 3 und 6), die sich im kur-zen Rock in die düstersten Ecken der Stadt begibt und jeden Mann, der sie gierig angafft, erschießt, habe ich nach dem Film MS .45 (1981) gebaut. Der Film ist zu finden unter:

Sorte 2 der Rachegefühle sind Gefühle während der Rache. Den Hinweis auf diese Gefühle verdanke ich Frau Almut Baumgarten (M. A.).

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