Thomas Nisters

Wörterbuch
philo­sophischer Alltags­begriffe

Grausamkeit

Begriffserklärung

Wer grausam ist, fügt anderen Qualen, Schmerzen, Leid zu. Diese Qualen, Schmerzen oder Leiden können seelisch sein; sie können körperlich sein; sie können körperlich und seelisch zugleich sein. Aber nicht jeder, der anderen Wesen Qual oder Schmerz zufügt, ist deshalb schon als grausam zu bezeichnen, denn nicht immer ist es grausam, anderen Leid und Schmerz zuzufügen.

Die Antwort auf die Frage, ob sich jemand grausam verhält, hängt von der Antwort auf eine weitere Frage ab:

Wie steht die Person zum Leid, das sie anderen zufügt?

Auf diese Frage gibt es wenigstens drei Antworten.

Antwort 1 lautet: Fremdes Leid wird als etwas Gutes angesehen.

Hagen findet es schön, Tieren oder Menschen Leid zuzufügen. Ihn freut fremdes Leid. Hagen neigt dazu, Tiere oder Menschen gezielt zu quälen. Er tut dies ohne weiteren Grund, einfach so. Fragt man ihn: „Warum quälst Du die Katze?“,  müsste Hagen antworten: „Weil es Spaß macht!“ Um anderen weh  zu tun, braucht er keinen weiteren Grund.

Wenn Hagen ein Ziel erstrebt und er hat zwei Wege, dieses Ziel zu erreichen, wählt er nach Möglichkeit den Weg, der für den anderen schmerzhafter ist. Als Metzger wird er die Art zu schlachten wählen, die qualvoller ist. Ein solches Leid bezeichnen wir als unnötig oder überflüssig, weil es vermeidbar ist.

Wenn Hagen ein Ziel erstrebt und es nur einen Weg zu diesem Ziel gibt, der für andere schmerzhaft ist, dann freut er sich innerlich am fremden Schmerz. Als Henker wird er sich freuen am Leid der Verurteilten.

In jedem Fall werde ich Hagen als grausam bezeichnen. Mehr noch: Eine solche Person ist grausam im eigentlichen und engen Sinne.

Antwort 2 lautet: Fremdes Leid wird weder als etwas Gutes noch als etwas Schlechtes angesehen.

Das Gefängnis S-21 in Kambotscha war die Hölle. Alte, Kinder, Frauen, Männer wurden dort in einem ehemaligen Schulgebäude bestialisch gequält und ermordet. Viele Folterknechte des S-21 zeigten im Gerichtsverfahren, das später gegen sie geführt wurde, keine Regung. Sie hatten kein Vergnügen, am Leid anderer. Sie fanden es nicht schön und gut, ihre Opfer zu quälen. Es schmerzte sie aber auch nicht, andere in einer Weise zu foltern, die man nicht einmal beschreiben mag. Vielmehr war es ihnen völlig gleichgültig, ob andere leiden. Sie waren gefühllos, abgestumpft. Auch solche Menschen bezeichnen wir als grausam, obwohl sie anders grausam sind als Personen, die fremde Qual erfreut.

Antwort 3 lautet: Fremdes Leid wird als etwas Schlechtes, als ein Übel angesehen.

Wer fremdes Leid oder fremde Qual als ein Übel betrachtet, vermeidet es. Es sind allerdings zwei Arten, fremdes Leid in diesem Sinne zu meiden, zu unterscheiden:

Die erste Art nenne ich die unbedingte Leidvermeidung: Mahatma verabscheut fremdes Leid so sehr, dass er nie und unter keinen Umständen bereit ist, Tieren oder Menschen Leid zuzufügen. Fremde Qual ist ihm ein unbedingtes Übel. Ganz sicher bezeichnen wir Mahatma nicht als grausam.

Die zweite Art nenne ich die bedingte Leidvermeidung: Johanna, Johann, Jonas und Jan vermeiden es im Grunde, anderen Schmerz zuzufügen. Fremden Schmerz halten sie für etwas Schlechtes. Aber das gilt nicht unbedingt. Manchmal sind sie bereit, fremdes Leid in Kauf zu nehmen.

Die bedingte Leidvermeidung tritt in vier Formen auf:

Form 1 der bedingten Leidvermeidung liegt vor, sofern Johanna anderen großen Schmerz für eine wichtige und bedeutsame Sache zufügt. Hier gilt: großer Schmerz für großen Nutzen.

Johanna ist Ärztin. Sie begleitet eine Dschungelexpedition. Ein Teilnehmer hat eine entzündete Wunde am Finger. Johanna hat keine Betäubungsmittel zur Verfügung. Sie muss den Finger ohne Narkose abtrennen, um ein Leben zu retten.

Form 2 der bedingten Leidvermeidung liegt vor, sofern Johann anderen großen Schmerz für eine unwichtige und bedeutungslose Sache zufügt. Hier gilt: großer Schmerz für kleinen Nutzen.

Johann B. ist Großkaufmann und sehr reich. Die Familie B. gehört zu den ersten Kreisen der Stadt. Johann B. mag seine Tochter Toni sehr. Toni verliebt sich in den Organisten Morten. Morten ist arm wie eine Kirchenmaus, denn er hat noch keine feste Stelle. Johann B., der Vater, aber will, dass Toni den Kaufmann Bendix G. heiratet. Erstens ist die Ehe mit einem Musiker nicht standesgemäß. Zweitens erhofft Johann B. sich aus der Ehe seiner Tochter Toni mit dem Kaufmann Bendix G. wirtschaftliche Vorteile. Johann ahnt, ja weiß, dass Toni mit G. nicht glücklich werden wird. Er opfert das Glück seiner Tochter für seinen Standesdünkel und wirtschaftliche Vorteile.

Form 3 der bedingten Leidvermeidung liegt vor, sofern Jan anderen geringen Schmerz für eine wichtige und bedeutsame Sache zufügt. Hier gilt: kleiner Schmerz für großen Nutzen.

Jan ist Arzt. Er wird zu einem Kind gerufen, das von einer tollwütigen Ratte gebissen wurde. Jan impft das Kind, um es vor einem qualvollen Tod zu retten.

Form 4 der bedingten Leidvermeidung liegt vor, sofern Jonas anderen geringen Schmerz für eine unwichtige und bedeutungslose Sache zufügt. Hier gilt: kleiner Schmerz für kleinen Nutzen.

Jonas foult in einem Spiel der Bezirksliga, um ein Tor zu verhindern. Dabei schubst er den Gegner nur.

Von all diesen Fällen werden wir wohl nur Form 2 als Form der Grausamkeit betrachten, weil hier für ein nichtiges Ziel großes Leid in Kauf nimmt. Besonders abstoßende Beispiele dafür, dass die Täter Qual und Gewinn unangemessen abwägen, finden sich im Krieg. So haben die roten Khmer ihren Opfern bei lebendigem Leibe die Kehle durchgeschnitten oder erschlugen sie mit einem Spaten, um Kugel zu sparen.

Die Frage, welches Leid wir für was in Kauf nehmen dürfen, ist allerdings oft schwer zu entscheiden. Vielleicht gibt es auch Qualen, die wir nie und unter keinen Umständen anderen zumuten dürfen.

Zusammenfassend können wir sagen: (i) Grausam ist, wer fremdes Leid gut findet, erstrebt und sich daran freut; (ii) grausam ist, wer fremdem Leid völlig gleichgültig gegenübersteht; (iii) grausam ist, wer zwar fremdes Leid als ein Übel beurteilt, aber großes Leid für etwas Unwichtiges in Kauf nimmt.

Damit wäre im Umriss geklärt, was es heißt, grausam zu sein. Doch bin ich bisher immer davon ausgegangen, dass die grausame Person handelt, etwas tut. Das muss aber nicht so sein. Menschen können auch grausam sein, indem sie etwas unterlassen, also nicht handeln:

Nina ist verliebt! Endlich wieder, nach langer, langer Zeit! Leander, heißt er, Ninas neuer Schatz. Gleich bei ihrem ersten Treffen hat Nina Leander erzählt, wie sehr es sie verletzt hat, als Mike sie vor zwei Jahren aus heiterem Himmel verlassen hat. Mike war einfach weg. Kein Wort, kein Brief, nichts! Wenn sie sich später zufällig trafen, tat Mike so, als sei Nina Luft. Doch nun ist alles wieder gut. Leander wird sie nicht fallen lassen. Weiß er doch um Ninas Ängste, verlassen zu werden. Kurz: Die Wunde scheint verheilt. Nina schwebt auf Wolke Sieben.

Doch die arme Nina täuscht sich. Im Herzen neigt Leander zur Grausamkeit.

Leander kann Nina nun auf drei Arten quälen, ohne dabei einen Finger krumm zu machen:

Grausamkeit durch Unterlassen Nr. 1 liegt in diesem Beispiel vor: Leander war mit Freunden zwei Tage wandern. Es gab keine Möglichkeit, sich bei Nina zu melden. Nina weiß: Sonntag kommt er zurück. Doch wer sich nicht meldet, ist Leander. Nina ruft ihn an. Er hebt nicht ab, lässt sie zappeln und genießt in Gedanken Ninas Qual.

Wer unterlassengrausam 1 ist, freut sich an fremdem Leid. Leander könnte Ninas Leid ein Ende setzen. Das tut er bewusst und absichtlich nicht. Mit Vergnügen malt er sich aus, wie Nina sich quält.

Grausamkeit durch Unterlassen Nr. 2 liegt in diesem Beispiel vor: Leander ist von seinem Ausflug mit den Freunden zurück. Eine Flasche Bier in der Hand zappt er durch die Programme. Nina ruft an. Einmal. Zweimal, sieben Mal. „Gott, wann gibt sie endlich Ruhe!“, denkt Leander. Ihm macht es keinen Spaß, Nina zu quälen. Ihm ist es lediglich gleichgültig. Der Griff zum Telefon ist ihm einfach zu lästig.

Wer unterlassengrausam 2 ist, freut sich nicht an fremdem Leid. Fremdes Leid ist ihm schlicht gleichgültig. Leander könnte Ninas Leid ein Ende setzen. Das tut er nicht, weil es ihn nicht kümmert.

Grausamkeit  durch Unterlassen Nr. 3 liegt in diesem Beispiel vor: Leander ist von seinem Ausflug zurück. Er spielt ein Computerspiel. Es läuft prima. Er könnte die höchste Punktzahl erreichen. Das Telefon klingelt: Nina. „Nein, bitte nicht, jetzt nicht!“, seufzt Leander und spielt weiter. Ein bisschen tut ihm Nina leid; doch tut sie ihm nicht so leid, als dass er dafür das Spiel unterbrechen will.

Wer unterlassengrausam 3 ist, den schmerzt fremdes Leid im Grunde. Eigentlich will Leander nicht, dass Nina leidet. Aber der Aufwand, zu handeln und Ninas Leid ein Ende zu setzen, ist ihm zu groß. Und wer einen kleinen Aufwand scheut, um ein großes Leid zu beenden, den nenne ich grausam.

Wer andererseits, um ein kleines Leid zu mindern, keinen riesigen Aufwand  treiben mag, den nenne ich nicht grausam.

Grausam durch Unterlassen scheint somit zu sein, wer fremdes Leid wahrnimmt, und es nicht lindert oder beendet. Dafür, das Leid nicht zu beenden, gibt es drei Gründe:

Grund 1: Die grausame Person beendet das Leid nicht, weil sie Freude am fremden Leid hat

Grund 2: Die grausame Person beendet das Leid nicht, weil fremdes Leid ihr gleichgültig ist.

Grund 3: Die grausame Person beendet das Leid nicht, weil sie einen kleinen Handlungsaufwand scheut, um ein bedeutendes Leid zu lindern oder zu beenden.

Doch muss noch etwas Wichtiges ergänzt werden: Unterlassengrausam ist nur, wer die Pflicht und die Aufgabe hat, das Leid zu lindern. Es kann nicht von jedem erwartet werden, Nina zu trösten:

Linda ist eine Mitschülerin von Nina. Die beiden kennen sich nur oberflächlich. Zufällig treffen sich die beiden am Sonntagabend. Nina fängt an, Linda ihr Leid zu klagen. Linda spürt: Nina geht es wirklich schlecht. Sie braucht jemanden, der ihr zuhört. Linda hat aber keine Lust und Zeit, Nina zuzuhören. Sie lässt  Nina stehen.

Wir werden Linda nicht als grausam bezeichnen, weil von Linda kaum erwartet werden kann, Nina zu helfen.

Bisher habe ich nur Fälle von Grausamkeit untersucht, bei denen der Täter, die Täterin willentlich oder wissentlich Qualen zufügte. Wer grausam ist, ist aber nicht unbedingt willentlich oder wissentlich grausam. Grausamkeit entspringt nicht immer einem Vorsatz oder einer Absicht. Manchmal sind Menschen aus Fahrlässigkeit und Nachlässigkeit grausam. Bisweilen denken die Täterin oder der Täter gar nicht an die Qualen, die sie dem Opfer zufügen, obwohl die Täterin oder der Täter daran denken könnte und sollte, was das Opfer auszustehen hat:

Armin und Ute entführen Nina von G. Armin und Ute erpressen die Familie von G. Sie halten Nina in der Besenkammer gefangen. Weil Armins und Utes Wohnung sehr hellhörig ist, knebeln Armin und Ute Nina von G., damit Nina nicht schreien kann und die Nachbarn etwas hören. Nina hat allerdings manchmal Schwierigkeiten, durch die Nase zu atmen. Außerdem hat die vierjährige Nina schreckliche Angst vor der Dunkelheit.  Sie leidet Höllenqualen, weil sie zu ersticken droht. Armin und Ute denken gar nicht daran, was sie ihrem Opfer antun.

Auch das, was Schweinen und Hühnern in der Massentierhaltung angetan wird, ist in gewisser Weise als fahrlässige Form der Grausamkeit zu verstehen.

Fragen

  1. Ist jemand, der sich gerne anschaut, wie andere Qualen erleiden, grausam?

  2. Was bewegt Menschen dazu, grausam zu sein? Wie werden Menschen grausam?

  3. Oft gestehen wir ein, schlechte Charaktereigenschaften zu haben. Aber kaum jemand wird sich als selbst grausam bezeichnen. Woher kommt das?

  4. Kann ich mir selbst gegenüber grausam sein?

  5. Wir sprechen von einer grausamen Rache oder von grausamen Strafen. Ja, wir reden von einer grausamen Krankheit und einem grausamen Tod. Sind Rache und Strafe, Krankheit und Tod in dem Sinne grausam, wie der Artikel es erklärt?

  6. Muss ich Macht über jemanden haben, um grausam zu sein?

  7. Muss ich wissen, dass ich anderen Schmerzen zufüge, damit man mich grausam nennen kann? Bisweilen ahnen wir doch gar nicht, welches Leid wir anderen Wesen zufügen. Z. B. fügen wir unseren Haustieren durch die Art, wie wir sie behandeln, oft Qualen zu.

  8. Können sich Menschen, die an sich nicht grausam sind, grausam verhalten? Ina ist mit Lennard zusammen. Inas Freund Lennard hat Ina gestern öffentlich beleidigt und beschimpft, nachdem Ina Lennard überrascht hat, als er mit der blöden Lucy geknutscht hat. Ina ist tief gekränkt und plant, sich grausam an Lennard zu rächen.

    Insgesamt sind vier Möglichkeiten denkbar:

    Fall 1: Ina verhält sich grausam und Ina ist ein grausamer Mensch.

    Fall 2: Ina verhält sich grausam, aber Ina ist kein grausamer Mensch.

    Fall 3: Ina verhält sich zwar nicht grausam, aber Ina ist ein grausamer Mensch.

    Fall 4: Ina verhält sich nicht grausam und Ina ist kein grausamer Mensch.

    Sind diese vier Möglichkeiten auch tatsächlich zu finden?

  9. Wir verurteilen die Grausamkeit. Dennoch zieht sie uns an. Wie kommt das?

  10. Wie sind Fälle zu beurteilen, in denen das Opfer einer grausamen Behandlung zustimmt, ja sie vielleicht regelrecht verlangt?

Quellen

In den Artikel über Grausamkeit sind Gedanken eingeflossen aus diesem Werk:

Thomas von Aquin, STH II/II, 159.

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