Ich beginne mit einem Beispiel:
Else Heimlich, Walburga Pester und Gisela Schmodder kennen sich seit ihrer Schulzeit. Sie haben zusammen das Mädchengymnasium Sankt-Ursula besucht. Nun sind sie 75 Jahre. Sie treffen sich jeden ersten Montagnachmittag des Monats einmal im Café am Dom. Auch heute sitzen sie wieder zusammen bei Kaffee und Sahnetorte. Doch Else muss heute früher gehen. Sie hat Konzertkarten: Wiener Walzerträume. Die ganze Zeit hat sie Walburga und Gisela vom Walzergeiger André Dieu vorgeschwärmt. Heute wird Else mit ihrem Gemahl in ein Konzert des Walzergeigers André Dieu gehen. Else sagt immer „mein Gemahl“, wenn sie von Erwin, ihrem zweiten Mann spricht. Kaum ist Else mit viel Getue, Küsschen hier, Küsschen da, abgerauscht, da fangen Walburga und Gisela an, über ihre Freundin herzuziehen:
„Meine Güte, André Dieu! Dieses Gedudel ertrüge ich keine zwei Minuten. Schrecklich!“
„Sicher muss sie ihren ‚Gemahl‘ mitschleifen. Der würde sich doch lieber mit seinen Saufkumpanen im Brauhaus treffen. Da kann ich ihn sogar verstehen.“
„Außerdem ist Else so oder so halb taub! Die hört doch nur noch auf einem Ohr und das auch schlecht. Was will die mit Musik?“
„Genau! Deshalb quasselt die auch ohne Pause, damit sie nicht zuhören muss.“
„Zuhören ist für die ein Fremdwort!“
„Ein neues Abendkleid hat sie sich gekauft! Wahrscheinlich wieder viel zu eng, so fett wie die geworden ist!“
„Farbe: lila – schätze ich!“
„Ich frage mich, wo Else das Geld her hat: Abendkleid, Konzert und nächstes Jahr die Kreuzfahrt im Herbst mit der Ballida. Viel Rente können die nicht bekommen.“
„Jesses, stell Dir vor, Du sitzt im Konzert neben der. Die reibt sich mit diesem Edelparfum, ich meine Ekelparfum, Chantalle Nr. 8 regelrecht ein! Igitt! Da müsste ich mich übergeben.“
„Und hast Du deren Fingernägel gesehen? Der Nagellack: splitter, splitter!“
„Gott sei Dank hat sie nicht mit ihrem Sohn, dem Herrn Doktor angefangen. Das hätte ich nicht mehr ertragen! ‚Mein Sohn, der Herr Doktor hat gesagt, hat getan, hat mir geraten, meint auch!‘ Unerträglich!“
Und so geht das in einem fort!
Walburga und Gisela lästern über Else. Die meisten kennen solche oder ähnliche Lästergespräche. Wir wissen, wann wir lästern. Sobald wir aber aufgefordert werden, genau zu sagen, was es bedeutet, zu lästern, dann stocken wir. Ein genauerer Blick auf Giselas und Walburgas Lästerei hilft, die Haupteigenschaften des Lästerns freizulegen.
Eigenschaft 1: Zum Lästern gehören wenigstens zwei Personen. Mit sich selbst kann man nicht lästern. In unserem Fall lästern Gisela und Walburga.
Eigenschaft 2: Es muss eine dritte Person geben, über die gelästert wird. Wir haben auf der einen Seite die Lästertäterinnen, Walburga und Gisela. Wir haben auf der anderen Seite das Lästeropfer, Else. Beim Lästern reden somit Lästertäterin 1 und Lästertäterin 2 über ein Lästeropfer.
Eigenschaft 3: Die beiden Lästertäterinnen reden beim Lästern nicht unmittelbar zum Opfer. Das Opfer ist abwesend. Das Opfer hört das Gespräch nicht. Gisela und Walburga reden hinter Elses Rücken über Else. Stellen wir uns vor, Gisela und Walburga würden zu Else ins Gesicht sagen: „Mensch Else, du bist aber wirklich dick geworden! Schau, wie Dein Kleid spannt!“ Else solche Dinge zu sagen, wäre sicher nicht nett! Gisela und Walburga würden jedoch nicht lästern, sobald sie Else unmittelbar ansprechen.
Eigenschaft 4: Manchmal allerdings lästern wir so, dass das Opfer das mitbekommt. Wir sprechen das Opfer nicht an. Wir reden über das Opfer so, dass das Opfer dies hört. Stellen wir uns vor, Gisela, Else und Walburga treffen sich in Elses Wohnung. Erwin, Elses Mann, wäscht in der Küche das Geschirr ab, während die drei bei einem Glas Likör Karten spielen. Dabei zieht Else über Erwin her, so dass der das hören kann: „Erwin hat wirklich zwei linke Hände! Der kann nicht einmal einen Nagel in die Wand schlagen. Und wie der den Abwasch macht! Nachher muss ich immer die Spüle blank wischen.“
Eigenschaft 5: Das, was die Lästertäterinnen über das Lästeropfer sagen, ist etwas Schlechtes. Wer über eine dritte Person etwas Gutes oder Neutrales sagt, lästert nicht. Wir können das, was die Lästertäterinnen über das Lästeropfer sagen, der Lästerinhalt nennen. Lästerinhalte sind Dinge, für die sich das Lästeropfer wohl schämen würde. Wenn die Täter dem Opfer die Lästerinhalte ins Gesicht sagten, dann wäre dies beleidigend oder kränkend.
Eigenschaft 6: Lästerinhalte lassen sich in Arten einteilen. (a) Manche Lästerinhalte sind Behauptungen. So behauptet Gisela, Else habe zugenommen und sei übergewichtig. Von manchen Lästerbehauptungen denkt die Lästertäterin, (a 1) dass sie wahr sind. So glaubt Gisela wirklich, dass Else übergewichtig sei. Von manchen Lästerbehauptungen denkt die Lästertäterin, (a 2) dass sie falsch sind. Hier lügt der Lästertäter. Nehmen wir an, Else benutzt nie ein Parfum und Walburga weiß das auch. Die Behauptung, Else reibe sich mit Chantalle Nr. 8 ein, wäre somit eine Lüge. Manche Lästerbehauptungen (a 3) werden einfach so ins Blaue gemacht. Die Lästertäterin hat keine Ahnung, ob sie wahr oder falsch sind. Ob Else ein neues Abendkleid hat, wissen Gisela und Walburga nicht. Diese vermuteten Lästerbehauptungen können (a 3.1) als Behauptungen oder (a 3.2) als Vermutungen in die Welt gesetzt werden. (b) Manche Lästerinhalte sind keine Behauptungen, sondern eher Bewertungen. Ob André Dieus Musik Gedudel ist, ob Chantalle Nr. 8 eklig riecht, ist eine Frage der Bewertung.
Eigenschaft 7: Lästeropfer kann eine einzige Person sein. Bisweilen wird aber auch eine Gruppe von Personen zum Lästeropfer. Gisela und Walburga machen sich über all die lustig, die für den Walzerkönig André Dieu schwärmen und in dessen Konzerte gehen.
Eigenschaft 8: Lästeropfer können auf jeden Fall Personen sein, die uns nahe stehen und die wir kennen. Manchmal stehen die Lästeropfer über den Lästertätern. So können Schüler und Schülerinnen über ihre Lehrer lästern. Manchmal stehen die Lästeropfer mit den Lästeropfern auf einer Stufe. Zwei Schüler lästern über einen dritten Schüler. Manchmal stehen die Lästeropfer unter den Lästertätern. So können Lehrer im Lehrerzimmer über Schüler herziehen.
Grob gesprochen wird gelästert, sobald wenigstens zwei Personen, die Lästertäter, über eine dritte Person, das Lästeropfer, schlecht reden und das Lästeropfer abwesend ist.
Manchmal aber sagen zwei Personen Schlechtes über eine dritte Person, ohne dass gelästert wird. Ein Beispiel dafür wäre: Jupp will sich einen Gebrauchtwagen beim Händler Heinz Schrott kaufen. Abends sitzt Jupp mit seinem Freund Jochen in der Kneipe. Jupp erzählt Jochen, dass er sich bei Heinz Schrott einen gebrauchten VW – Golf kaufen will. Jochen warnt Jupp vor diesem Kauf. Erst letztes Jahr hat ein Freund von Jochen bei Heinz Schrott einen Wagen gekauft. Der Wagen hat keine zwei Monate gehalten. Schrott, so warnt Jochen, ist ein Schlitzohr und Halsabschneider. Jochen lästert nicht. Vielmehr gibt er seinem Freund einen Rat; Jochen warnt Jupp.
Damit gelästert wird, reicht es nicht, dass zwei Personen über eine dritte Person schlecht reden. Vielmehr müssen noch zwei Bedingungen erfüllt sein:
Bedingung 1 nenne ich die Spaß-Bedingung: Den Lästertätern muss es Freude und Lust bereiten, schlecht über die dritte Person zu reden. Walburga und Gisela genießen es, über Else herzuziehen. Es macht an sich Spaß, zu lästern. Reines Lästern genügt sich selbst. Reines Lästern verfolgt kein weiteres Ziel.
Bedingung 2 nenne ich die Überheblichkeitsbedingung: Die Quelle dieser Lästerfreude ist das Gefühl, besser zu sein als andere. Wer lästert, macht das Lästeropfer schlecht. Dadurch steht der Lästertäter besser da: Else ist zu fett, Walburga und Gisela schlank. Else hat einen schlechten Musikgeschmack, Walburga und Gisela wissen, was wirklich schön ist. Else stinkt nach billigem Parfum, Walburga und Gisela duften wie Rosen. Das Gefühl, besser zu sein als andere, führt oft auch dazu, sich von anderen abzugrenzen und gegen andere zusammenzuschließen.
Wer also lustvoll schlecht über Abwesende redet, um sich im Gespräch über die abwesende Person zu stellen, lästert im eigentlichen Sinne.
Wer aus einer edlen Absicht schlecht über Dritte redet, lästert mithin nicht. Eine gute Absicht kann es sein, zu warnen: Gaby erzählt ihrer besten Freundin Jacqueline, dass sie, Gaby, bis über beide Ohren in den Bademeister Jupp verliebt ist. Jacqueline sagt: „Mensch Gaby! Lass‘ bloß die Finger von dem. Der war mit Nicole zusammen und die hat mir erzählt, Jupp habe Nicole nach Strich und Faden betrogen.“ Jacqueline redet schlecht über Jupp, um ihre Freundin Gaby vor Jupp zu warnen.
Bisweilen gibt es sogar eine regelrechte Pflicht, schlecht über andere zu reden: Egon Heimlich steht vor Gericht wegen Heiratsschwindel. Eines seiner Opfer, Rita Kindlich, sagt aus. Weil es Rita nicht zuzumuten ist, Egon zu begegnen, muss Egon den Gerichtssaal verlassen. Er ist abwesend. Rita beschreibt nun ausführlich, wie Egon ihr die große Liebe vorspielte und sie überredete, ihm ihr ganzes Geld zu überweisen. Unter Eid muss Rita all diese hässlichen und beschämenden Dinge über Egon sagen. Ritas Aussage ist aber keine Lästerei.