Thomas Nisters

Wörterbuch
philo­sophischer Alltags­begriffe

Scham

Begriffserklärung

Was genau heißt, sich zu schämen? Diese Frage zu beantworten ist recht schwierig. Vielleicht hilft es, mit einigen Beispielen zu beginnen. Diese Beispiele sind zum Teil krass. Krasse Beispiele zu wählen, soll helfen, klar zu machen, was Scham ist. Die Beispiele sollen niemanden verletzen.

  • Paul schämt sich, weil sein Vater ein arbeitsloser Alkoholiker ist.
  • Torben schämt sich, weil er mit acht Jahren ab und zu noch ins Bett macht.
  • Michael schämt sich, weil er seinem besten Freund Lars auf dem Schulhof nicht geholfen hat, als der brutale Torben Lars das Handy weggenommen hat. Selbst bei der Polizei wollte Michael nicht gegen Torben aussagen, weil Michael Angst vor Torbens Rache hat.
  • Silke schämt sich, weil sie einen haarigen Leberfleck auf der Stirn hat.
  • Maria schämt sich, weil sie ihrer besten Freundin heimlich den teuren Lippenstift gestohlen hat.
  • Bernadette schämt sich wegen ihrer Sommersprossen.
  • Thomas ist zu einem vornehmen Essen eingeladen: weiße Leinentischdecken, echte Bienenwachskerzen, Teller mit Goldrand, Château Mouton Rothschild aus edlen Kristallgläser. Aus Versehen stößt Thomas ein Rotweinglas um. Der Wein läuft nicht nur über die edle Tischdecke, er bekleckert auch das teure Kleid seiner Tischnachbarin, der Gräfin von Dungwitz. Thomas ist das äußerst peinlich.
  • Kati wächst in einem elenden, spießigen Kaff am Niederrhein auf. Mit 14 Jahren spürt sie, dass es sie zu Mädchen hinzieht. Sie ist lesbisch. Dafür schämt sie sich schrecklich.

Was können wir aus diesen Beispielen lernen?

(1) Wir schämen uns nicht für etwas, was wir für gut und richtig halten. Michael würde sich nicht dafür schämen, für seinen Freund Lars wie ein Löwe gekämpft zu haben. Wenn Pauls Vater Chefarzt wäre, dann würde Paul sich nicht für seinen Vater schämen.  Vielmehr schämen wir uns für das, was schlecht ist, für das, was nicht sein sollte. Wir schämen uns dann, wenn etwas mit uns nicht so ist, wie es erwartet wird.

(2) Es gibt ganz viele unterschiedliche Arten von Dingen, für die wir uns schämen:

  • Wir schämen uns (i) für Dinge, für die wir nicht verantwortlich sind. Wir schämen uns aber auch (ii) für Dinge, für die wir die Verantwortung tragen. (i) Nicht verantwortlich sind wir für das, was wir gar nicht beeinflussen können: unsere Haarfarbe, unsere Eltern, unsere Körpergröße. (ii) Verantwortlich sind wir für das, was wir beeinflussen können, z. B. für das,  was wir tun und sagen. (i) Silke kann nichts für ihren Leberfleck; (ii) Maria jedoch ist verantwortlich für ihren Diebstahl.
  • Wir schämen uns (I) für Dinge, die mit unserem Körper zusammenhängen, aber auch (II) für Dinge, die mit unserer Seele zusammenhängen: Silke schämt sich (I) für ihren Leberfleck, Michael (II) für seine Feigheit.
  • Wir schämen uns für Dinge, (a) die mit uns selbst unmittelbar zusammenhängen; wir schämen uns aber auch (b) für andere: (a) Torben schämt sich, weil er ab und an ins Bett macht;  (b) Paul hingegen schämt sich für seinen Vater. Manchmal sind wir bei der Scham (a) ganz bei uns; manchmal sind wir (b) bei anderen.
  • Wir schämen uns, (A) weil wir etwas getan haben, was wirklich schlimm ist; wir schämen uns aber auch, (B) weil wir uns einfach bei einer Kleinigkeit daneben benommen haben: (A) Seinem Freund nicht beizustehen, ist schlimm; (B) aus Versehen bei einem vornehmen Essen ein Glas umzustoßen, ist eigentlich nicht schlimm. Trotzdem schämen wir uns dafür.

(3) Stellen wir uns vor, Thomas hätte sich alleine abends etwas zu essen gekocht und sich dazu ein Glas Wein gegönnt. Aus Versehen stößt er das Glas um. Thomas wird sich vielleicht ärgern, aber nicht schämen, denn es fehlen die Zuschauer. Und auch Maria schämt sich erst, sobald ihr Diebstahl auffliegt. Zur Scham gehört, dass es Zuschauer gibt. Wir schämen uns, weil andere sehen: Mit uns ist etwas falsch; wir sind nicht so, wie wir sein sollten; wir erfüllen die Erwartungen nicht. In diesem Hinsicht unterscheiden sich Schuld und Scham: Maria könnte sich schrecklich schuldig fühlen, auch ohne dass ihr Diebstahl herauskommt.

(4) Zur Scham gehören so Punkt (3) Zuschauer. Es lohnt sich, diesen Zuschauer genauer unter die Lupe zu nehmen:

(4 a) Der Zuschauer muss überhaupt in der Lage sein, das, wofür wir uns schämen, zu entdecken. Silke macht eine Bahnfahrt. Mit ihr im Abteil sitzt ein Junge in ihrem Alter, den sie nett findet. Schnell merkt sie, dass der Junge blind ist. Nun schämt sie sich nicht mehr wegen ihres Flecks und kann ganz unbefangen mit ihm plaudern.

(4 b) Der Zuschauer muss auf uns achten. Oft achten die Menschen gar nicht aufeinander. Sie laufen gleichgültig aneinander vorbei, sind mit sich selbst und ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Nehmen wir an, Paul fährt in ein Ferienlager. Dort kennt ihn niemand und niemanden kümmert, was mit Pauls Vater los ist. Oder: Für unsere Gedanken, so abartig und schlimm sie sein mögen, schämen wir uns nicht. Denn: Gedanken kann kein Mensch lesen.

(4 c) Der Zuschauer muss das, was er an uns sieht, schlecht, eklig, widerlich finden. Der Zuschauer ist im Grunde wie ein Richter, der uns verurteilt, weil wir nicht so sind, wie wir sein sollten. Das gnadenlose Urteil lautet:

  • Wer mit acht Jahren noch ins Bett macht, ist ein völliger Versager.
  • Wer seinem Freund nicht hilft, ist ein Feigling.

Weil nun unterschiedliche Richter auch unterschiedlich urteilen, ruft ein und dieselbe Sache manchmal Scham hervor und manchmal nicht. Stehen wir vor einem Richter, der das, was mit uns ist, schlecht findet, schämen wir uns; stehen wir vor einem Richter, der das, was mit uns ist, gut findet, schämen wir uns nicht. Die einen finden Sommersprossen wunderhübsch, die anderen abstoßend.

(4 d) Und das Urteil der Zuschauerrichter hat schlimme Folgen: einen Bettnässer, einen Feigling, einen Alkoholiker-Sohn verachten wir; mit so einem wollen wir nichts zu tun haben. Wenn wir nur könnten, dann würden wir solche Menschen wie Sabine, Paul, Torben, Michael verstoßen. Auf jeden Fall bestrafen wir Sabine, Paul, Michael und all die anderen mit Geringschätzung.

(5) Wer sich schämt, teilt in der Regel das Urteil der Zuschauerrichter: Paul findet es ganz furchtbar, dass sein Vater trinkt; Silke sieht den Leberfleck als Schandmal.

Ich würde die Scham demnach etwa so bestimmen:

Scham ist unser Schmerz darüber, dass andere Menschen etwas Schlechtes an uns sehen und uns deshalb mit Recht geringschätzen oder verachten.

Aus dieser Bestimmung der Scham ergeben sich zunächst zwei Gegen-sätze der Scham.

Schamgegensatz 1 ist der Stolz: Wir schämen uns, sobald andere etwas Schlechtes an uns entdecken und uns deshalb verachten. Wir sind stolz, sobald andere etwas Gutes an uns entdecken und uns deshalb hoch achten.

Schamgegensatz 2 ist der Ärger: Wir schämen uns, sobald andere etwas an uns entdecken, was sie mit Recht als schlecht beurteilen und uns deshalb auch mit Recht verachten. Wir ärgern uns, werden wütend, sobald andere uns zu Unrecht verurteilen. Ein solch unrechtes Urteil, eine solche ungerechtfertigte Geringschätzung, kann drei Formen annehmen:

Form 1: Es ist gar nicht wahr, dass an mir überhaupt etwas ist, was schlecht ist. Die anderen irren sich. So könnte es sein, dass Pauls Vater gar kein Alkoholiker ist. Das ist nur ein böses Gerücht. In diesem Fall wird Paul sich schrecklich ärgern und wütend sein.

Form 2: Das, was als schlecht beurteilt wird, ist es gar nicht. Stellen wir uns vor, Kati zieht mit 18 Jahren ins weltoffene Berlin. Sofort verliebt sie sich in Yumiko. Hier, in ihrer neuen Heimat, ist es völlig normal, lesbisch zu sein. Kein Mensch schämt sich deswegen. Nach Monaten fährt Kati zum ersten Mal wieder nach Hause. Dort ist Schützenfest. Als der Macho Hartmut sie abends im Festzelt begrapscht und blöde Bemerkungen über Lesben macht, rastet Kati aus und schüttet Hartmut ein Bierglas ins Gesicht.

Form 3: Die anderen haben kein Recht, sich als Richter aufzuspielen.  Paul wird wegen seines Vaters vor allem von Simon aufgezogen. Eines Tages erfährt Paul, dass Simons Vater wegen Betrugs im Gefängnis sitzt.

Manchmal hören wir den Satz: „Du solltest Dich schämen!“  Es gibt offenbar Situationen, in denen wir uns schämen sollten, und Situationen, in denen wir uns nicht schämen sollten oder nicht zu schämen brauchen. Daraus ergeben sich sodann zwei weitere Gegensätze zur Scham:

Schamgegensatz 3 ist die Überscham: Wer sich schämt, obwohl er sich nicht zu schämen braucht oder sich nicht schämen sollte, leidet unter Überscham.  Es gibt unterschiedlich Gründe, warum Menschen sich ohne vernünftigen Grund schämen:

  • Überschämige Menschen halten oft alles an sich für schlecht. Sie machen sich schlechter, als sie sind.
  • Überschämige Menschen glauben, dass andere nichts Besseres und Wichtigeres zu tun haben, als sie zu beobachten. Sie halten sich für wichtiger, als sie sind.
  • Überschämige Menschen überschätzen andere Menschen; sie glauben, dass die anderen Dinge sehen können, die eigentlich unsichtbar sind. Sie halten andere für hellsichtiger, als die es sind.
  • Überschämige Menschen glauben, dass andere Menschen allzu streng urteilen.

Schamgegensatz 4 ist die Unterscham: Wer unter Unterscham leidet, wird als schamlos bezeichnet. Unterscham hat zwei Stufen:

Stufe 1 der Unterscham liegt vor, sobald sich jemand einfach nicht schämt, obwohl er sich schämen sollte. Es kommt heraus, dass Maria den Lippenstift gestohlen hat. Das ist Maria aber völlig egal; sie zuckt nur mit den Schultern und schämt sich nicht.

Stufe 2 der Unterscham liegt vor, sobald jemand sogar stolz ist auf das, wofür er sich eigentlich schämen sollte. Maria könnte z. B. regelmäßig teures Parfum, Lippenstifte, Make-up in edlen Geschäften stehlen und damit noch vor ihren Freundinnen stolz prahlen. Wir ärgern uns über Schamlosigkeit der zweiten Stufe aus zwei Gründen: (i) Wir ärgern uns, weil die schamlose Person offenbar für gut hält, was wir für schlecht halten. (ii) Wir ärgern uns, weil der schamlosen Person egal ist, was wir von ihr halten, die schamlose Person uns also verachtet.

Ist die Scham nun etwas Gutes oder etwas Schlechtes?

Ganz und gar gut ist die Scham wohl nicht. Erstens ist sie mit Schmerz verbunden. Zweitens bezieht sie sich auf etwas, was nicht gut, nicht richtig, nicht  vorzeigbar ist.

In gewisser Hinsicht ist die Scham aber gut, weil sie oft dazu antreibt, das zu tun, was gut und richtig ist: Vielleicht stiehlt Maria aus Scham nicht.

Doch manchmal treibt die Scham auch zu Handlungen, die verwerflich sind:

  • Egon ist fremdgegangen. Er weiß nicht, ob er sich mit AIDS infiziert hat. Er schämt sich, seiner Frau zu sagen, dass er fremdgegangen ist, und steckt seine Frau an.
  • Klaus N. ist alt und krank. Heimlich spielt er. Deshalb hat  er 70.000 € Schulden. Er schämt sich dafür vor seiner Tochter Christiane. Als Klaus N. stirbt, bekommt seine Tochter Christiane Post von der örtlichen Kreissparkasse: „Sehr geehrte Frau N.! Als Erbin Ihres Vaters Klaus N. müssen Sie seine Schulden bezahlen. Setzen Sie sich schnell mit uns in Verbindung. Mit freundlichen Grüßen Herbert Gier (Filialleiter)“. Weil Klaus N. aus Scham geschwiegen hat, zerstört er das Leben seiner Tochter.
  • Gretchen treibt ihr Kind ab, weil sie sich schrecklich schämt, ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen.

Diese Beispiel zeigen: Bisweilen handeln wir aus Scham. Was aber heißt das eigentlich genau, aus Scham zu handeln?

Wahrscheinlich sind zwei Fälle, aus Scham zu handeln, zu unterscheiden:

Fall 1: Das, wofür wir uns schämen, ist einfach da, wie etwa Silkes Leberfleck. In diesem Fall versucht Silke, den Leberfleck vor den Zuschauern zu verbergen. Sie kämmt ihre Haare so, dass der Fleck nicht zu sehen ist. Die erste Handlung, zu der uns die Scham treibt, ist das Verbergen und Verstecken.

Fall 2: Das, wofür wir uns schämen könnten, gibt es noch gar nicht. Maria steht vor dem Glasschrank, in dem die teuren Parfums aufgehoben werden. Die Glastür ist seltsamerweise nicht verriegelt. Unverschlossen und zum Greifen nahe steht da ein Fläschchen Roja Nüwa. Sie überlegt, ob sie es in der Jackentasche verschwinden lassen soll. Die Verlockung ist wirklich riesig. Aber: Was, wenn sie erwischt wird?! Sie würde zur Polizei gebracht. Die Polizei brächte sie nach Hause. Alle Nachbarn bekämen das mit, von den Eltern und Geschwistern gar nicht zu reden. Schon der Gedanke daran ist kaum auszuhalten! Sie würde sterben vor Scham.

In Fall 2 stellt Maria im Grunde eine Berechnung an: Auf der einen Seite steht der Gewinn, das wunderbare Parfum zu besitzen und wie eine chinesische Göttin zu duften. Für diesen traumhaften Duft, so könnte Maria denken nehme ich in Kauf, erwischt zu werden. Sie greift in den Glasschrank und lässt das Fläschchen in ihrer Jackentasche verschwinden. Auf der anderen Seite stehen die Kosten: Polizei, Eltern, Scham! Maria stiehlt unter Umständen das Parfum nicht, weil sie Angst vor der Beschämung hat. Maria könnte denken: Für das Parfüm möchte ich nicht den Preis der Beschämung zahlen. Dieser Preis ist mir zu hoch. Schweren Herzens dreht sie sich um und lässt das Parfum stehen.

Fragen

  1. Es gibt Schamfeinde. Die Schamfeinde sagen: Scham ist schlecht. Als Grund führen sie an: Wer aus Scham handelt, richtet sich danach, was andere erwarten. Wir sollen uns aber nicht danach richten, was andere erwarten. Wir sollten uns nicht zum Sklaven anderer machen. Wir sollen uns danach richten, was wirklich gut oder schlecht ist.

    Haben die Schamfeinde recht?

  2. Es gibt Schamfreunde. Die Schamfreunde behaupten, Scham ist etwas Gutes. Sie führen drei Gründe für ihre Behauptung an:

    • Die Scham unterstützt vor allem junge Menschen, das Richtige zu tun und das Falsche zu lassen. Die Scham hat gleichsam einen erzieherischen Wert. Später, als Erwachsene, brauchen die Menschen dann diese Unterstützung nicht mehr.
    • Wer sich gar nicht schämt, dem ist die Meinung und das Urteil anderer völlig gleichgültig ist. Ihm ist es völlig egal, dass andere ihn verachten. Ein derart schamloser Mensch ist überheblich und anmaßend. Er stellt sein Urteil über das aller anderer. Die Scham schützt vor solcher Überheblichkeit. Deshalb ist die Scham gut.
    • Die Scham rät uns, manches vor fremden Blicken zu verbergen. Ein so geschützter Bereich ist ein notwendiger Schutz vor fremden Übergriffen. Deshalb ist die Scham wichtig und gut.

    Was ist von diesen Gründen zu halten?

  3. Im Text werden unter Punkt (2) viele verschiedene Dinge genannt, für die wir uns schämen. Gibt es etwas, was all diesen Dingen gemeinsam ist?

  4. Bisweilen beschämen wir andere absichtlich. Wieso tun wir das?

  5. Für die Scham brauche ich Zuschauer. Um sich schuldig zu fühlen, brauche ich keine Zuschauer. Scham und Schuld unterscheiden sich also. Nun lassen sich vier Fälle denken:

    1. Andrea fühlt sich schuldig und sie schämt sich.
    2. Andrea fühlt sich schuldig, schämt sich aber nicht.
    3. Andrea fühlt sich nicht schuldig, schämt sich aber.
    4. Andrea fühlt sich weder schuldig noch schämt sie sich.

    Gibt es Beispiele für diese Fälle? Was fühlt sich schlimmer an? Scham oder Schuld?

  6. Manche behaupten, für die Scham bräuchte es nicht notwendig Zuschauer. Damit würde Punkt (3) aus dem Artikel bestritten. Man könne sich, so wird behauptet, auch ganz für sich alleine schämen. Beispiele für diese Scham ohne Zuschauer wären: Sarah und Simon sind ein Paar. Eines Tages verliebt sich Simon in Judith. Sarah ist schrecklich eifersüchtig. Sie hat riesige Angst, Simon an Judith zu verlieren. Heimlich wünscht sie Judith den Tod. Dafür schämt sie sich, obwohl doch niemand ihre Wünsche kennen kann. Oder: Hagen hat gruselige  Träume. Im Traum quält er hilflose Tiere auf furchtbare Weise. Oft wacht er auf und schämt sich ganz schrecklich für diese Träume.  Zeigen diese Beispiele wirklich, dass es Scham ohne Zuschauer gibt?

  7. Paul schämt sich, weil sein Vater Alkoholiker ist. Pauls Lehrerin hat Mitleid mit Paul, weil Pauls Vater Alkoholiker ist. Wie verhalten sich Scham und Mitleid zueinander?

  8. Manchmal schämen wir uns für etwas, was an sich gar nicht schlecht ist. Hier sind zwei Beispiele.

    Beispiel 1: Anette führt Tagebuch. Eines Tages erfährt sie, dass ihr Bruder Lennard, der ein Ekel ist, ihr Tagebuch aus ihrem Zimmer geholt hat und daraus seinen ebenfalls ekligen Freunden vorgelesen hat. Anette ist furchtbar beschämt.

    Aber es ist doch gar nichts Schlechtes, ein Tagebuch zu führen! Wieso also schämt sich Anette?

    Beispiel 2: Sabine hat es geschafft. Sie hat sich gegen alle durchgesetzt. Sie steht im Endspiel. Ihr Schläger ist neu bespannt und ihr weißes Tenniskostüm frisch gewaschen. Wenn da nur nicht dieses verfluchte Ziehen im Unterleib wäre! Gestern Abend ging es los. Sabine wird die Zähne zusammenbeißen. Sie wird das Spiel gewinnen. Das wäre doch gelacht! Plötzlich wird es still in der Halle. Und dann fangen einige Mädchen auf den Rängen an zu lachen und zu kreischen. Sabine merkt, wie alle auf sie schauen. Einige Mädchen zücken ihre Handys. Sabine schaut an sich herunter. Zwischen ihren Beinen haben sich einige Blutflecke gebildet, klein zwar, aber gut sichtbar. Sie hat ihre Periode bekommen, obwohl es gar nicht so weit war. Alle gaffen: neugierig, hämisch, angeekelt. Sabine möchte sterben vor Scham.

    Mit Blick auf Beispiel 2 stellen sich gleich mehrere Fragen:

    • Wieso schämen wir uns für Dinge, die natürlich, gut und richtig sind, wie die Regelblutung der Frau?
    • Wie kommt es, dass Kulturen hier so unterschiedlich sind: In Japan z. B. sind Mädchen stolz auf ihre erste Periode. Die wird mit einem Fest und besonderem Essen gefeiert!
    • Manche Leser – und vielleicht gehörst du dazu – finden Beispiel 2 anstößig. Sie denken: „So etwas darf man gar nicht schreiben!“ Wie kommt es zu dieser Empörung über das Beispiel? Ist die Empörung berechtigt?
  9. Manchmal schämen sich Menschen, weil sie Opfer einer Straftat geworden sind. Betrugsopfer, Vergewaltigungsopfer, Opfer von Gewalt in der Ehe schämen sich. Wie kommt das? Denn eigentlich sollten sich doch die Täterinnen oder Täter schämen!

Quellen

In den Artikel über die Scham sind Gedanken eingeflossen aus diesen Werken:

Aristoteles, RHET, II. Buch, Kap. 6;

Thomas von Aquin, STH, II/II, 144;

Stephan Marks, Die Würde des Menschen oder

Der blinde Fleck in unserer Gesellschaft, Gütersloh 2010: Gütersloher Verlagshaus;

Demmerling / Landweer, Philosophie der Gefühle, 220 – 244.

Das Beispiel von Sabine (Frage 8), die öffentlich ihre Regelblutung bekommt, entnehme ich dem Roman Carrie (New York 1974: Doubleday & Company) von Stephen King  Das Beispiel von Silke, die sich wegen ihres Leberflecks schämt, entnehme ich dem Roman The Killing Doll (New York 1990 (5. Auflage): Ballantine Books) von Ruth Rendell. Das Beispiel von Kati, die sich schämt, weil sie lesbisch ist, entnehme ich dem Film Kommt Mausi raus?! (1995)

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