Ich beginne mit einem Beispiel:
Leander und Rabea haben sich ein neues Sofa bestellt. Rabea und Leander wohnen im zweiten Stock. Einen Aufzug gibt es nicht. Die Treppe ist steil und eng. Heute wird das Sofa geliefert. Die Männer, die das Sofa liefern, weigern sich, es auf den zweiten Stock zu tragen. Und tatsächlich: Im Liefervertrag steht: „Anlieferung nur ins Erdgeschoss.“ Da steht nun das Sofa. Rabea und Leander überlegen, wie sie das Möbelstück in ihre Wohnung bekommen. Leander und Rabea sind beide zart und schwächlich. Da fällt ihnen ihre gemeinsame Freundin Komiko ein. Komiko ist Gewichtheberin. Sie rufen Komiko an: „Kannst Du uns helfen, ein Sofa zu tragen? Bitte!“ Zehn Minuten später ist Komiko zur Stelle. Zu dritt tragen sie das Sofa auf den zweiten Stock.
Zur Hilfe gehören, so zeigt das Beispiel, (i) ein Hilfe-Sender, nämlich Komiko; (ii) ein Hilfe-Empfänger, nämlich Rabea und Leander; (iii) ein Ziel des Hilfe-Empfängers, nämlich das Sofa auf den zweiten Stock zu bringen; (iv) eine Leistung des Hilfe-Senders, nämlich Komikos tatkräftiges Zupacken.
Ich werfe zunächst einen genaueren Blick auf den (ii) Hilfe-Empfänger:
Der Hilfe-Empfänger muss ein Ziel haben; er muss ein Ziel erstreben. Leander und Rabea haben das Ziel, dass das Sofa in ihrer Wohnung steht. Wer nichts erstrebt, wer nichts will, dem kann nicht geholfen werden. Wesen, die gar nicht in der Lage sind, etwas zu erstreben, kommen als Hilfe-Empfänger gar nicht in Frage. Einem Stein kann nicht geholfen werden.
Der Hilfe-Sender hilft dem Hilfe-Empfänger bei genau dem, was der Hilfe-Empfänger will. Es ist Unsinn, einer Person bei etwas zu helfen, was sie gar nicht will. Hilfe ohne oder gegen den Willen des Hilfe-Empfängers ist nicht möglich.
Der Hilfe-Empfänger kann sein Ziel alleine (a) gar nicht oder (b) nur mit einem gewissen Aufwand erreichen.
Das Ziel, das Sofa in ihre Wohnung zu bringen, können Rabea und Leander alleine (a) gar nicht oder (b) nur mit großer Mühe erreichen. So könnte es (a) sein, dass Rebea und Leander einfach zu schwach sind, um das Sofa überhaupt zu tragen. Oder es könnte (b) sein, dass die beiden das Sofa mit Ach und Krach zwar tragen können, sich dabei aber vielleicht einen Rückenschaden zuziehen, die Flurwände zerkratzen oder gar stürzen.
Der Hilfe-Empfänger ist Haupttäter. Er ist es, der das Ziel will; oder er ist es, der dafür verantwortlich ist, dass das Ziel erreicht wird.
Der Hilfe-Empfänger muss eine Teilleistung erbringen. Rabea und Leander müssen auch mit anpacken. Wer gar nichts tut, ist kein Hilfe-Empfänger. Nehmen wir an, Komiko brächte ihre Gewichtheber-Freundin Olha mit. Die beiden packen das Sofa und tragen es, als wäre es federleicht, in den zweiten Stock. Leander und Rabea machen keinen Finger krumm. In diesem Fall hätten Olha und Komiko dem Leander und der Rabea nicht geholfen, das Sofa zu tragen. In diesem Fall hätten Olha und Komiko das Sofa für Leander und Rabea hochgetragen. Dass der Hilfe-Empfänger eine Teilleistung erbringen muss, zeigt dieser Gedanke: Stellen wir uns vor, die Mutter fragt die Tochter: „Kannst Du mir helfen, Vaters Grab in Ordnung zu bringen?“ Auf dem Friedhof aber setzt sich die Mutter auf eine Bank, liest die Zeitung und raucht, während sie die Tochter arbeiten lässt. Die Tochter wird denken oder sagen: „Du wolltest, dass ich dir helfe! Nun mache ich alles für dich!“
Ich werfe als Nächstes einen Blick (i) auf die Person, die hilft, auf den Hilfe-Sender:
Der Hilfe-Sender muss fähig sein, die Lage des Hilfe-Empfängers zu erkennen und zu verstehen. Komiko versteht, dass das Sofa auf den zweiten Stock soll und dass Leander und Rabea dies alleine gar nicht oder nur schwerlich bewerkstelligen können.
Der Hilfe-Sender muss jedoch nicht nur fähig sein, zu erkennen und zu verstehen, dass der Hilfe-Empfänger Hilfe braucht und haben möchte. Die Fähigkeit alleine, die Hilfsbedürftigkeit des Hilfe-Empfängers zu erkennen reicht nicht. Vielmehr muss der Hilfe-Sender die Hilfsbedürftigkeit auch tatsächlich erkennen.
Der Hilfe-Sender macht sich zunächst das Ziel des Hilfe-Empfängers zu eigen. Auch Komiko will, dass das Sofa in den zweiten Stock kommt. Komiko will dies allerdings nur, weil Rabea und Leander dies wollen. Komiko selbst ist es an sich und eigentlich gleichgültig, wo das Sofa steht. So gesehen spielt Komiko eine untergeordnete Rolle.
Komiko kann dabei völlig selbstlos handeln. Sie will ihren Freunden etwas Gutes tun. Komiko handelt aus reinem Wohlwollen.
Komiko muss aber nicht völlig selbstlos handeln. Es gibt neben dem reinen Wohlwollen viele Gründe, zu helfen. Hier sind einige Gründe, zu helfen:
Hilfegrund 1 ist die Dankbarkeit: Der Hilfe-Sender ist dem Hilfe-Empfänger von früher her dankbar. Es ist die Dankespflicht des Hilfe-Senders, zu helfen. Vielleicht haben Leander und Rabea oft in den Ferien auf Komikos Katze aufgepasst.
Hilfegrund 2 ist die Hoffnung auf Rückerstattung: Der Hilfe-Empfänger hofft, dass der Hilfe-Empfänger später auch ihm, dem Hilfe-Sender, einmal hilft. Vielleicht hofft Komiko, dass Leander und Rabea im Sommer Komikos Blumen gießen werden.
Hilfegrund 3 ist die Pflicht: Es gibt bisweilen eine rechtliche Pflicht, zu helfen. Manche Berufsgruppen wie Polizisten, Rettungsschwimmer oder Ärzte sind gesetzlich verpflichtet, zu helfen. Und jeder Bürger ist gesetzlich verpflichtet bei Unglücksfällen zu helfen: Wer nachts einen Verletzten blutend am Straßenrand sieht und einfach weitergeht, macht sich strafbar.
Hilfegrund 4 ist eine Vereinbarung: Der Hilfe-Empfänger schließt bisweilen mit dem Hilfe-Sender einen Vertrag. So hilft der Anwalt oder der Steuerberater, weil sie mit dem, der Hilfe sucht, einen Vertrag über diese Hilfe geschlossen haben.
Hilfegrund 5 ist der Eigennutz: Manchmal helfen wir aus schierem Eigennutz. Im Grunde ist uns der Hilfe-Empfänger egal: Gilbert ist ein reicher Schnösel; sein Vater ist Anwalt, die Mutter Ärztin. Gilbert ist ein rechter Schürzenjäger, immer auf der Suche nach einem neuen Abenteuer. Nun hat er es auf Bernadette abgesehen. Bernadette ist eine kindisch-verträumte Weltverbesserin, die ernsthaft an das Gute im Menschen glaubt. Zudem ist sie völlig unerfahren, sehnt sich nach der großen Liebe. Eines Tages, Gilbert begleitet Bernadette ein Stück nach der Schule, sehen sie einen Mann in einem Hauseingang liegen: die Beine mit Geschwüren übersäht, zahnlos, die verrutschte Hose eingenässt, eine Wunde am Kopf. Der Mann stinkt zum Himmel. Gilbert geht zu dem Mann: „Kann ich Ihnen helfen?“ Die Antwort ist ein Lallen. Gilbert zückt sein Handy, ruft einen Krankenwagen. Den Sanitätern hilft Gilbert, den Mann auf die Bahre zu hieven. Dann bittet er Bernadette, mit ihm in ein Bekleidungsgeschäft zu gehen, um für den armen Mann Unterwäsche, Schlafanzüge, Hose, Hemden und Jacke zu kaufen, die sie ihm ins Krankenhaus bringen. Zum Abschied steckt Gilbert dem armen Teufel noch 200 Euro gerade so zu, dass Bernadette es sieht. Bernadette ist völlig aus dem Häuschen und hoffnungslos verzückt vom barmherzigen Samariter Gilbert. Zwei Tage später landet sie mit ihm im Bett! Gilbert half dem Mann nur und ausschließlich, um Bernadette zu beeindrucken und sie zu erobern. Die Hilfe war nichts anderes als ein Weg in Bernadettes weiches Herz.
Der Hilfe-Sender darf nicht unfähig sein. Komiko darf nicht völlig ungeschickt sein; sie darf nicht schwächlich sein. Wer unfähig ist, kann vielleicht versuchen, anderen zu helfen. Diese Hilfeversuche sind aber zumeist wertlos oder gar schädlich. Ein Beispiel: Auf Leanders Computer funktioniert das E-Mail Programm nicht richtig. Er kann zwar noch E-Mails empfangen, keine E-Mails mehr versenden. Rabea sagt: „Kinderspiel! Das bringe ich in Ordnung!“ Sie setzt sich an den Rechner. Nach einer halben Stunde funktioniert das E-Mail-Programm gar nicht mehr. Nun kann Leander nicht einmal E-Mails empfangen. Rabea hat es vermasselt.
Der Hilfe-Sender darf nicht böswillig sein. Lisa ist hinter Torben her. Lisa fragt Torbens Schwester Thea, wie sie, Lisa, Torben gefallen könnte. Thea hasst Lisa. Thea gibt Lisa mit böser Absicht den Rat, Torben werde schwach beim Geruch von Eau d’Hadrien. Tatsächlich, und das weiß Thea, erleidet Torben bei diesem Duft schlimme Erstickungsanfälle. Lisa kauft sich das sündhaft teure Parfum, trägt Eau d‘Hadrien vor einem Treffen mit Torben auf. Torben landet auf der Intensivstation. Thea hat Lisa mit ihrer scheinbaren Hilfe doppelt geschadet: Lisa hat viel Geld aus dem Fenster geworfen; Torben wird sich nie mehr mit Lisa treffen.
Ich werfe nun einen Blick (iii) auf das Ziel des Hilfe-Empfängers:
Das, was der Hilfe-Empfänger erstrebt, kann eine Kleinigkeit sein oder etwas sehr Wichtiges. Graf von Nichtsnutz kann der Gräfin von Faulwitz in den Mantel helfen. Das ist eine Kleinigkeit. Der Graf von Nichtsnutz kann aber auch durch seine Beziehungen dabei helfen, ein nobles Pflegeheim für die gebrechliche Gräfin zu finden. Das ist keine Kleinigkeit.
Das Ziel des Hilfe-Empfängers kann (1) gut, (2) böse oder (3) weder gut noch böse sein.
Oma Christa hilft ihrer Tochter Caro bei der Betreuung von Caros Kindern. Das Ziel, Kinder ordentlich zu betreuen, ist (1) gut.
Komiko hilft Leander und Rabea, das Sofa in den zweiten Stock zu tragen. Das Ziel, ein Sofa in der Wohnung zu haben, ist an sich (3) nicht gut und nicht böse.
Carmen ist in den Bademeister Jupp sterblich verliebt. Sie ist aber mit Hein, dem Zuhälter zusammen. Hein ist eifersüchtig und nicht zimperlich. Da fliegen schnell die Fäuste. Hein muss also weg. Carmens Freundin Rosi ist Apothekerin. Rosi erklärt Carmen, wie sie einen leckeren Salat mit den schmackhaften, aber tödlichen Kernen des Wunderbaums zubereitet, und zeigt Rosi, wo sie Wunderbäume auf einer Brache am Stadtrand findet. Gesagt, getan! Das Ziel, Hein zu ermorden, ist (3) böse.
Das Ziel muss allerdings dem Hilfe-Empfänger selbst als gut erscheinen. Ob es tatsächlich gut für ihn ist, bleibt fraglich. Carmen will ja nicht nur Hein, den Zuhälter, beseitigen, sie will auch mit Jupp, dem Bademeister, glücklich werden. Aber vielleicht passen Carmen und Jupp gar nicht zusammen und Carmen wird unglücklich. Oft helfen wir anderen bei etwas, was in Wahrheit gar nicht gut für sie ist. Ein krasses Beispiel schädlicher Hilfe wäre die folgende Geschichte: Dr. Bauwens ist Arzt und fährt einen schweren, schnellen Mercedes. Sein Sohn Frederic hat gerade den Führerschein gemacht. Seine Eltern schenken ihm einen VW–Polo. Frederic aber will unbedingt mit dem Mercedes seines Vater fahren. Der Vater rückt den Wagen nicht heraus, schließt den Schlüssel weg. Eines Abends ist der Vater weg, die Mutter lässt sich erweichen und händigt Frederic den Schlüssel aus. Die Mutter hilft Frederic, endlich einmal mit dem schnellen Auto des Vaters fahren zu dürfen. Frederic fährt los, wird immer waghalsiger, verfehlt eine Kurve. Die Rettungskräfte konnten seine Leiche nur noch aus einem Ei von Schrott bergen. Mit dem schweren Auto zu fahren entpuppte sich als scheinbares Gut. Es war kein wahres Gut.
Werfen wir einen Blick (iv) auf die Hilfeleistung, die der Hilfe-Sender erbringt:
Der Aufwand zu helfen kann eine Kleinigkeit sein. Der gebrechlichen Nachbarin eine schwere Einkaufstasche auf den dritten Stock zu tragen, ist für Komiko, die Gewichtsheberin, nicht der Rede wert. Leander und Rabea beim Umzug zu helfen, ist keine Kleinigkeit für Komiko.
Die Hilfeleistung kann in (I) einer tatsächlichen Unterstützung bestehen; die Hilfeleistung kann in (II) einer belehrenden Unterstützung bestehen; die Hilfeleistung kann in (III) einer Unterstützung auf Ebene der Gefühle bestehen. Diese drei Arten der Hilfeleistung lassen sich hübsch am Beispiel der blonden Carmen erklären, die sterblich in den Bademeister Jupp verliebt ist, während der Zuhälter Hein dieser Liebe im Wege steht. Rosi, Carmens Freundin, hilft Carmen, Hein zu beseitigen: (I) Rosi fährt mit Gabi auf eine Vorstadtbrache. Dort wachsen Wunderbäume. Rosi und Carmen sammeln gemeinsam die hochgiftigen Samen des Wunderbaums. Rosi unterstützt Carmen durch die Tat. (II) Carmen ist nicht besonders helle im Kopf. Rosi erklärt ihr ganz genau, wie sie den Salat mit den Wunderbaumfrüchten zubereiten soll. Rosi unterstützt Carmen durch Rat. (III) Kurz vor der Tat bekommt Carmen Gewissensbisse und Zweifel. Zudem hat sie Angst, dass Hein etwas merkt und sie totprügelt. Verzweifelt fährt Carmen zu Rosi. Rosi spricht ihr gut zu, tröstet Carmen, nimmt sie zum Abschied in den Arm und sagt: „Kopf hoch, Carmen, alles wird gut!“ Rosi unterstützt Carmen auf der Ebene der Gefühle.
Hilfe ist nicht immer gut. Manchmal ist die Hilfe regelrecht schlecht und unsittlich; manchmal stimmt mit der Hilfe etwas nicht.
Schlecht und unsittlich ist die Hilfe etwa in diesen Fällen:
- Die Handlung, mit der geholfen wird, ist böse. Kalle schwört vor Gericht einen Meineid, damit sein Freund Emil nicht verurteilt wird.
- Das, wozu geholfen wird, ist böse. Kalle leiht Emil einen Schweißbrenner, damit Emil in die Bank einbrechen kann.
Etwas stimmt mit der Hilfe nicht bzw. etwas ist mit der Hilfe nicht in Ordnung etwa in den folgenden Fallgruppen. Diese Fallgruppen ergeben sich zum Teil aus dem, was wir bereits über den (i) Hilfe-Sender, den (ii) Hilfe-Empfänger, (iii) das Ziel des Hilfe-Senders und (iv) die Leistung des Hilfe-Senders ausgeführt haben. Somit kommt es in gewisser Weise zu Wiederholungen.
Fallgruppe 1 einer Hilfe, mit der etwas nicht stimmt, ist die untaugliche Hilfe: Zu helfen heißt, etwas zu tun, was den Hilfe-Empfänger sein Ziel leichter erreichen lässt, oder etwas zu tun, was dem Hilfe-Empfänger sein Ziel überhaupt erreichbar macht. Das aber klappt nicht immer. Denn manchmal macht es die Hilfe-Leistung dem Hilfe-Empfänger gar nicht leichter, sein Ziel zu erreichen. Und manchmal macht die Hilfe-Leistung es dem Hilfe-Empfänger auch gar nicht möglich, sein Ziel überhaupt zu erreichen. In diesen Fällen liegt eine untaugliche Hilfeleistung vor. Hier wäre das Beispiel von Rabea, die Leanders Computer reparieren will, aber keine Ahnung hat und nichts ausrichtet, einschlägig.
Fallgruppe 2 einer Hilfe, mit der etwas nicht stimmt, ist die schädliche Hilfe: In diesen Fällen wird das eigentliche Ziel der Hilfe zwar erreicht. Aber die Hilfeleistung hat ansonsten schädliche Wirkungen oder Folgen.
Die Hilfeleistung kann schädliche Folgen (2.1) für den Hilfe-Empfänger haben; die Hilfeleistung kann schädliche Folgen (2.2) für den Hilfe-Sender haben; die Hilfeleistung kann schädliche Folgen (2.3) für Dritte haben.
Schädliche Folgen (2.1) für den Hilfe-Empfänger liegen in diesen Fällen vor:
- Das, was der Hilfe-Empfänger erstrebt, ist nur ein scheinbares Gut: Ralf ist alkoholkrank. Seine Freundin Moni hilft Ralf, an Alkohol zu kommen. So hilft Moni Ralf, im Supermarkt Korn zu stehlen, indem Moni das Personal ablenkt, während Ralf die Flasche in seiner Manteltasche verschwinden lässt. Kurzfristig hilft Moni Ralf; langfristig trägt sie dazu bei, dass Ralf an Leberkrebs stirbt. Und auch die blonde Carmen erstrebt vielleicht nur ein scheinbares Gut. Möglicherweise zeigt sich nach der Hochzeit, dass der Bademeister Jupp noch viel brutaler ist als der Zuhälter Hein.
- Die Hilfe entmündigt den Hilfe-Empfänger; die Hilfe beschädigt die Selbständigkeit des Hilfe-Empfängers: Sintje wird erst sehr spät Mutter. Ihr Sohn Mattes ist ihr ein und alles. Sintje vergöttert ihren Mattes, verhätschelt und verwöhnt ihn nach Strich und Faden. So hilft Sintje ihrem Sohn Mattes immer beim Anziehen, obwohl er bald in die Schule kommt; als Mattes in die Schule kommt, kann er sich vor und nach dem Sportunterricht nicht alleine umkleiden.
- Der Hilfe-Empfänger wird durch die Hilfe gedemütigt: Der kleine, schwache Wladimir wird auf dem Schulhof immer vom großen, starken Igor verhauen. Wladimir wehrt sich zwar tapfer, aber gegen den Schläger Igor kommt er nicht an. Keiner hilft Wladimir. Eines Tages jedoch tun sich die Mädchen zusammen, helfen Wladimir und verprügeln Igor. So helfen sie Wladimir. Doch nun ist Wladimir das Gespött des Schulhofs, weil ihm Mädchen helfen.
Schädliche Folgen (2.2) für den Hilfe-Sender liegen in diesen Fällen vor:
- Der Hilfe-Sender zahlt für seine Hilfe einen sehr hohen Preis. Moni und Ralf werden beim Korndiebstahl erwischt und Moni muss ins Gefängnis. Oder: Der Hilfe-Sender vernachlässigt sich. Isoldes Mann Arthur hatte einen Schlaganfall. Nachts muss er oft auf die Toilette. Manchmal nässt er sogar ein. Jedes Mal steht Isolde auf. Sie schläft kaum noch. Eines Tages erleidet sie einen Zusammenbruch.
- Der Hilfe-Sender wird ausgenutzt: Komiko ist schrecklich in Rabea verliebt. Komiko glaubt, keiner merke dies. Aber Rabea und Leander spüren, wie schrecklich Komiko in Rabea verliebt ist. Rabea und Leander machen sich über Komikos Gefühle lustig und nutzen Komikos Verliebtheit aus. Bei jeder Gelegenheit fragen sie Komiko um Hilfe. Sogar dann, wenn Rabea und Leander gut alleine zurecht kämen, muss Komiko mit anpacken. Und stets hilft die verliebte Komiko. Zu Festen und Geburtstagen aber wird Komiko nicht eingeladen. Und Rabea und Leander helfen Komiko nie. Indem Komiko hilft, lässt Komiko sich ausnutzen.
Schädliche Folgen (2.3) für Dritte liegen in diesen Fall vor:
- Indem der Hilfe-Sender dem Hilfe-Empfänger hilft, unterlässt der Hilfe-Sender, einem Dritten zu helfen. Dabei hätte die dritte Person eigentlich ein Recht auf die Hilfe: Simons Vater hilft an zwei Nachmittagen in der Woche benachteiligten Kindern aus der Vorstadt bei den Hausaufgaben. Für Simon jedoch hat sein Vater nie Zeit.
Fallgruppe 3 einer Hilfe, mit der etwas nicht stimmt, ist die unredliche Hilfe:
Manchmal ist mit der Hilfe etwas nicht in Ordnung, weil die Absichten oder Beweggründe des Hilfe-Senders unredlich sind. Eine unredliche Absicht oder ein unredlicher Beweggrund liegt in diesen Fällen vor:
- Durch die Hilfe soll der Hilfe-Empfänger verpflichtet werden. Komiko hilft Rabea und Leander nur deshalb, das Sofa hochzutragen, weil Komiko einen großen Umzug plant, bei dem Rabea und Leander helfen sollen.
- Der Hilfe-Sender will über dem Hilfe-Empfänger stehen. Wer hilft ist stark und mächtig. Armin hat seine Frau Marianne stets schlecht und herablassend behandelt. Nun hatte Armin einen Gehirnschlag, ist gelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen. Marianne hilft Armin. Sie genießt es, so Macht über Armin zu haben.
- Der Hilfe-Sender gibt seinem eigenen Leben einen Sinn und einen Inhalt, indem er anderen hilft. Sigrid empfindet ihr Leben als öde und leer. Einen Partner hat sie nicht; Kinder hat sie nicht; ihr Beruf ist langweilig. Jede freie Minute widmet sie ihrer alten, gebrechlichen Mutter. Der Mutter hilft Sigrid in jeder Hinsicht, weil Sigrid so ihrem eigenen Leben Sinn und Halt gibt.
- Der Hilfe-Sender will andere mit seiner Hilfe beeindrucken. Hier wäre das Beispiel vom Schnösel Gilbert, der die unerfahrene Bernadette beeindrucken möchte, passend.
Oft hilft der Hilfe-Sender nicht einfach so von sich aus. Die Hilfeleistung wird vielmehr zumeist angebahnt.
Es gibt vier Arten, wie die Hilfe angebahnt wird: (A) die Darbietung, (B) die Darstellung, (C) die Bitte und (D) die Annahme.
Diese vier Arten, Hilfe anzubahnen, sollen an einem weiteren Beispiel verdeutlicht werden.
Igor und Iwan sind bei ihrer Tante Olga zu Besuch. Tante Olga wohnt auf dem Land in einem kleinen Haus mit einem riesigen Garten. Igor und Iwan sitzen auf der Terrasse, dösen in der Sonne, trinken Bier und Wodka und rauchen kubanische Zigarillos. Tante Olga gräbt derweil das Gemüsebeet um.
Ein Beispiel für (A) eine Darbietung ist: Nehmen wir an Tante Olga ächzt und stöhnt laut, macht immer wieder Pausen, hält sich den Rücken, wischt sich den Schweiß von der Stirn, schimpft halblaut vor sich hin. Schließlich erbarmen sich Iwan und Igor, schnappen sich jeweils einen Spaten und helfen Tante Olga, das Gemüsebeet umzugraben. In diesem Fall liegt eine (A) Darbietung vor. Das ganze Verhalten von Tante Olga soll Iwan und Igor deutlich machen, dass die Jungs der Tante gefälligst helfen sollen.
Ein Beispiel für (B) eine Darstellung ist: Nehmen wir an, morgens sitzen Igor und Iwan beim Frühstück. Tante Olga wäscht ab. Dabei redet sie ununterbrochen auf die Jungs ein: „Habt ihr euch einmal das Gemüsebeet angesehen? Völlig verwildert! Da gibt es nur noch Unkraut. Das Beet muss dringend umgegraben werden. Ich weiß gar nicht, wie ich das schaffen soll! Immer muss ich alles alleine tun, seit euer Onkel Pjotr – Gott hab‘ ihn selig! – gestorben ist. Es ist ein Elend!“ So geht das ohne Ende. Igor und Iwan hören sich das eine halbe Stunde an. Schließlich sagen sie: „Alles gut, Tante Olga! Wir helfen dir.“ Sie stehen auf, packen sich jeder einen Spaten und graben mit Tante Olga das Gemüsebeet um. In diesem Fall liegt eine (B) Darstellung vor; Tante Olga schildert den Jungs, was es im Gemüsebeet zu tun gibt.
Ein Beispiel für eine (C) Bitte ist: Nehmen wir an, Iwan und Igor sitzen am Frühstückstisch. Tante Olga setzt sich zu ihnen. „Jungs“, sagt sie, „ ich habe eine Bitte: Das Gemüsebeet muss umgegraben werden. Könnt ihr mir helfen?“ „Klar!“, antworten Iwan und Igor wie aus einem Munde, schultern den Spaten und graben mit Tante Olga das Gemüsebeet um. In diesem Fall (C) bittet Tante Olga um Hilfe.
Ein Beispiel für (D) eine Annahme ist: Nehmen wir an, Iwan und Igor schlendern durch den Garten und sehen das verwilderte Gemüsebeet. Zurück im Haus sagen sie: „Tante Olga! Das Gemüsebeet müsste dringend umgegraben werden. Sollen wir dir dabei helfen?“ Zu Tränen gerührt (D) nimmt Tante Olga das Angebot an. Sie packen sich jeweils einen Spaten und graben das Gemüsebeet um.