Lüge
Begriffserklärung
Willi Arglos braucht ein neues Auto. Er geht zum Gebrauchtwagenhändler Jupp Schrott. Jupp Schrott zeigt Willi Arglos einen VW Golf. Jupp Schrott sagt:
„Dieser Wagen hatte noch keinen Unfall.“
Hat Jupp Schrott gelogen?
Um die Frage, ob Jupp Schrott gelogen hat, zu beantworten, hilft es, drei andere Fragen zu stellen.
Frage 1 nenne ich die Tatsachenfrage: Ist das, was Jupp Schrott behauptet, wahr oder falsch? Hatte der Wagen wirklich noch keinen Unfall?
Frage 2 nenne ich die Glaubensfrage: Hält Jupp Schrott das, was er behauptet, selbst für wahr oder falsch? Glaubt Jupp Schrott, der VW Golf sei unfallfrei?
Frage 3 nenne ich die Täuschungsfrage: Will Jupp Schrott Willi Arglos täuschen? Soll Willi Arglos glauben, der Wagen sei unfallfrei?
Frage 1, die Tatsachenfrage, scheint nicht wichtig zu sein, solange es ums Lügen geht. Denn: Jupp Schrott könnte sich irren. Er hat den Golf selbst gekauft und ist übers Ohr gehauen worden. Er weiß gar nicht, dass es sich um einen Unfallwagen handelt. Er glaubt, was er sagt, und irrt sich. Jupp Schrott sagt die Unwahrheit, ohne zu wissen, dass er die Unwahrheit sagt. In diesem Fall lügt Jupp Schrott nicht, obwohl er die Unwahrheit sagt.
Frage 2, die Glaubensfrage, ist hingegen wichtig. Wer das Gegenteil von dem sagt, was er für wahr hält, lügt.
Jupp Schrott lügt mithin, sobald zwei Bedingungen erfüllt sind:
Bedingung 1: Jupp Schrott glaubt, der VW Golf hatte einen Unfall.
Bedingung 2: Jupp Schrott sagt zu Willi Arglos: „Dieser Wagen hatte keinen Unfall.“ Jupp Schrott sagt das Gegenteil von dem, was er glaubt.
Es ist komisch: Jupp Schrott kann die Unwahrheit sagen und trotzdem nicht lügen, wie wir bei Frage 1 gesehen haben. Was Jupp Schrott sagt („Der Wagen ist unfallfrei“), passt zu seinem Denken. Was er sagt, passt nicht zur Wirklichkeit
Wer sich irrt und sagt, was er denkt, lügt nicht. Die Unwahrheit zu sagen, bedeutet nicht immer, zu lügen.
Noch komischer ist aber: Jupp Schrott könnte sogar umgekehrt die Wahrheit sagen und trotzdem lügen. Wie das geht?
Nehmen wir an, Jupp Schrott ist ein paar Tage nicht im Geschäft gewesen. Ein Mitarbeiter hat den VW Golf mit dem Unfallschaden (Golf 1) verkauft und zufällig einen anderen VW Golf, der genauso aussieht wie Golf 1, aber keinen Schaden hat, (Golf 2) auf den Platz gestellt. Jupp Schrott weiß das nicht. Er sagt: „Dieser Wagen hatte noch keinen Unfall.“ Damit sagt er die Wahrheit, denn Golf 2 hatte ja tatsächlich keinen Unfall. Dennoch lügt er, denn Jupp Schrott glaubt, über Golf 1 zu reden. Und Golf 1 hatte ja einen Unfall. Was er sagt, passt zur Wirklichkeit. Was er sagt, passt nicht zu seinem Denken.
In einem Wort:
Man kann erstens die Wahrheit sagen und trotzdem lügen.
Man kann zweitens die Unwahrheit sagen und trotzdem nicht lügen.
Ist nun Frage 3, die Täuschungsfrage, wichtig? Gehört es zur Lüge, andere täuschen zu wollen? Will der Lügner immer, dass sein Hörer das glaubt, was der Lügner sagt? Hier gehen die Meinungen auseinander.
Meinung 1: Manche sagen: Ja, zur Lüge gehört unbedingt die Täuschung.
Meinung 2: Manche sagen: Nein, zur Lüge gehört nicht unbedingt die Täuschung.
Nach Meinung 1 ist Jupp Schrott nur dann ein Lügner, wenn er Willi Arglos täuschen will. Jupp Schrott will, dass Willi Arglos glaubt: „Dieser Wagen hatte noch keinen Unfall.“
Nach Meinung 2 ist Jupp Schrott auch dann ein Lügner, wenn er Willi Arglos gar nicht täuschen will. Nehmen wir an, der VW Golf zeige deutliche Spuren eines Unfalls. Aus Spaß und mit einem Augenzwinkern sagt Jupp Schrott: „Dieser Wagen hatte keinen Unfall.“ Jupp Schrott will gar nicht, dass Willi Arglos das glaubt. Er will nur einen Spaß machen. Nach Meinung 2 würde Jupp Schrott trotzdem lügen. Nach Meinung 1 würde er hier nicht lügen, weil er ja nicht täuschen will.
Wer Meinung 1 vertritt, erklärt die Lüge so:
Erklärung 1: Wer etwas anderes sagt, als er für wahr hält, und damit andere täuschen will, lügt.
Wer Meinung 2 vertritt, erklärt die Lüge so:
Erklärung 2: Wer etwas anderes sagt, als er für wahr hält, lügt.
Nehmen wir einmal an, Erklärung 1 wäre richtig: Wer lügt will täuschen. Die Frage „Warum lügen wir?“ ist nach Erklärung 1 klar zu beantworten. Wir lügen, um zu täuschen. Die Täuschung ist unser Ziel und unsere Absicht. Aber: Warum wollen wir mit der Lüge täuschen?
Es gibt drei Gründe, zu täuschen:
Täuschungsgrund 1: Wir erstreben mit der Täuschungslüge einen Vorteil für uns selbst. Ein Beispiel ist: Jupp Schrott will, dass Willi Arglos für den Unfallwagen einen Preis bezahlt wie für einen unfallfreien Wagen. Jupp Schrott ist hinter Geld her.
Andere Beispiele wären: Ich lüge, um nicht bestraft zu werden. Oder ich lüge, um anzugeben.
In diesen Fällen will der Lügner einen Vorteil für sich.
Täuschungsgrund 2: Wir erstreben mit der Täuschungslüge einen Vorteil für den, den wir belügen. Ein Beispiel ist: Lisa und Mark sind ein Paar. Mark liebt Lisa. Lisa liebt Mark nicht mehr. Lisa will Schluss machen. Am nächsten Dienstag hat Mark eine wichtige Prüfung. Montags fragt Mark Lisa: „Du, Lisa, liebst Du mich noch?“ Lisa gibt Mark einen Kuss und flüstert ihm ins Ohr: „Ja!“ Lisa lügt. Sie lügt, damit Mark seine Prüfung in Ruhe macht.
Ein anderes Beispiel wäre: Die Ärztin sagt zum todkranken Patienten: „Das wird schon wieder.“ Der Patient soll nicht verzweifeln.
In diesen Fällen will der Lügner einen Vorteil für den Belogenen.
Täuschungsgrund 3: Wir erstreben mit der Täuschungslüge einen Vorteil für einen Dritten.
Ein Beispiel ist: Hagen und Nicole sind ein Paar. Hagen ist krankhaft eifersüchtig. Und: Hagen ist ein brutaler Schläger. Nur Nicole würde er nie anrühren. Denn: Erstens liebt er Nicole; zweitens schlägt er keine Frau. Nun knutscht Nicole auf einer Party mit dem zarten Leander. Hagen bekommt Wind davon. Er stellt Nicole zur Rede: „Hast Du mit Leander geknutscht?“ Nicole antwortet: „Quatsch! Ich knutsch doch nicht mit so einem Weichei!“ Nicole will Leander vor Hagen schützen.
Fragen
Frage 1: Gehört zur Lüge die Absicht, täuschen zu wollen? Oder gibt es auch Lügen ohne Täuschungsabsicht?
Frage 2: Es gibt andere Versuche, lügen zu erklären: Wer anderen die Unwahrheit sagt und ihnen dadurch schadet, lügt. Was hältst Du von dieser Erklärung?
Frage 3: Ist es verboten zu lügen? Es gibt drei Antworten:
Antwort 1: Manche sagen: Es ist immer verboten, zu lügen.
Antwort 2: Manche sagen: Es ist manchmal erlaubt, zu lügen.
Antwort 3: Manche sagen: Es ist manchmal geboten, zu lügen.
Was meinst Du? Welche Antwort ist richtig?
Frage 4: Ich kann die Unwahrheit sagen, ohne täuschen zu wollen, etwa wenn ich einen Spaß mache. Kann ich umgekehrt auch versuchen, andere zu täuschen, indem ich die Wahrheit sage?
Frage 5: Lässt sich mit Hilfe von dem, was im Artikel steht, erklären, was ein lügenhaftes Versprechen ist?
Frage 6: Kann man sich selbst belügen?
Frage 7: Kann man Tiere belügen?
Frage 8: Können Tiere lügen?
Frage 9: Nehmen wir an: Willi Arglos fragt Jupp Schrott: „Ist der Wagen technisch in Ordnung?“ Jupp Schrott antwortet: „Nun, der Vergaser müsste ausgewechselt werden!“ Was Jupp Schrott verschweigt: Auch Bremsen und Kupplung sind kaputt. Lügt Jupp Schrott?
Frage 10: Du bist in einer fremden Stadt. Eine ältere Dame spricht Dich an: „Kannst Du mir sagen, wie ich zum Bahnhof komme?“ Du hast keine Ahnung, wo der Bahnhof ist. Doch Du sagst: „Ja, immer geradeaus, noch etwas einen Kilometer, da ist der Bahnhof.“ Hast Du gelogen?